Reportage mit Koltai Lajos ( aus der Zeitung von Herend Herald)

EINE KATHEDRALE BAUEN

Lajos Koltai führte in dem 1981 mit dem Oscar preisgekrönten Werk von Szabó István, Mephisto, die Kamera. Er war auch der Kameramann der drei anderen, jeweils als bester ausländischer Film für den Oscar nominierten Werke Das Vertrauen (1981), Oberst Redl (1986) und Hanussen (1988) von Szabó. Für den Oscar wurde er selbst für seine Leistung als Kameramann in dem von Giuseppe Tornatore gedrehten Film Malena (2000) vorgeschlagen.

Außerdem war er für die Kameraarbeit von nahezu fünfzig Fernseh- und Kinofilmen verantwortlich und wird heute für einen der bedeutendsten Experten auf seinem Gebiet gehalten. Im letzten Jahrzehnt arbeitete er mit solchen Stars wie Klaus Maria Brandauer, Glenn Close, Sean Connery, Ralph Fiennes, Jodie Foster, Harvey Keitel, Kevin Kline, Jack Lemmon, Walter Matthau, Shirley MacLaine, Anthony Quinn, oder Liv Ullmann. Mit Schicksalslosigkeit nach dem Roman von Imre Kertész bereitet er sich jetzt auf seine erste Regiearbeit vor.

… Mit István Szabó, unserem mit dem Oscar preisgekrönten Regisseur, verbindet sie eine schon drei Jahrzehnte währende Arbeitsbeziehung. Welche Rolle spielen in Ihrem Leben die Tradition, die Treue?

Koltai Lajos: Diese Art Tradition kann man im vorliegenden Fall so definieren, dass man mit manchen Menschen lange Zeit zusammen sein kann. Aber man kann es auch auf die starke und fest zusammenhaltende Familie beziehen, in der ich aufwuchs, die mich umgibt. Mich interessiert die traditionelle Denkweise sehr, die auf der Einhaltung gewisser Regeln beruht. Ich bin meinen Eltern immer dankbarer, dass ich im Laufe meines Lebens in gewissen Dingen Regeln gelten lasse, die sie mich lehrten einzuhalten, dass sie mich auf so vieles aufmerksam machten und wir ihnen auch glauben konnten. Meine Mutter hatte eine schnelle Hand und in ihr war eine große Liebe: Beides ergänzte sich prächtig. Von meinen Eltern lernte ich zum Beispiel, wie man sich in bestimmten Situationen und Orten verhält – unabhängig davon, wer ich bin und was aus mir wurde. Eine der wichtigsten Botschaften von Ein Hauch von Sonnenschein, dem Film, der in Zusammenarbeit mit István Szabó entstand, ist, dass der Mensch immer wissen muss, woher er kommt und wohin er geht. Viele wichtige Dinge passieren mir in letzter Zeit, alles Sachen, die so scheinen, als wären sie vom Schicksal diktiert: Jetzt zum Beispiel sitze ich Ihnen in einem Büro gegenüber, in dem jede Kleinigkeit verkündet, dass der Film Schicksalslosigkeit gedreht werden wird.

Tradition hat für mich viele Bedeutungen, ein Beispiel dafür ist, dass die Menschen wissen, dass István Szabó und ich zusammengehören. Oder ich werde mit dem italienischen Regisseur Giuseppe Tornatore zusammen genannt. Eine gute Gemeinschaft bedeutet unter anderem auch, dass wir gemeinsam eine schöpferische Zukunft planen können. Das könnten wir nicht, wenn es keine gemeinsamen, Sicherheit bietenden Traditionen gäbe, die ich in den erwähnten Fällen auch Freundschaft nennen könnte. An der Tradition ist gut, dass wir mit ihrer Hilfe wissen, worauf wir zurückgreifen können, worauf wir uns stützen können. Als Lehrer sehe ich darin einen besonders großen Nutzen. In unserem Beruf muss man sich auch gewisse grundlegende Sachen aneignen, worauf man später, wenn es gelingt, eine Kathedrale bauen kann. Aber jede Anstrengung ist vergebens, wenn wir nicht wissen, wie man das Fundament, die erste Reihe Ziegel legt. In diesem Sinne denken wir mit Szabo auf sehr traditionelle Weise. Die filmische Ausbildung kann auch auf nichts anderem basieren als auf Traditionen. Ich habe deshalb das Lehren aufgegeben, weil meine Studenten auf meinen Namen hin kamen und ich zu der Zeit meistens im Ausland arbeitete. Ich sah ein, dass ich nicht korrekt bin, wenn ich die Stunden nicht halte, wenn ich mich verspäte, wenn ich – aus welchem Grund auch immer – nicht das geben kann, was ich übernommen habe.

…Die uns umgebende Welt kultiviert diese Werteordnung nicht besonders.

Dennoch denke ich, dass es nur so lohnt, das Leben zu leben. Ich halte mich grundsätzlich für einen modernen Menschen, aber es wäre schwierig, genau in Worte zu fassen, was das heute bedeutet. Wenn Sie wiederum meine Arbeiten sehen, gibt es nichts mehr, worüber ich reden sollte, denn aus ihnen geht hervor, wie ich – nicht nur visuell – über die Welt denke. Ich fühle, dass ich mit all dem zusammenleben kann, was ich gelernt habe und was ich achte. Darüber hinaus besteht meine Aufgabe nur darin, dass ich träume und vermittle.

…Die Verfilmung von Schicksalslosigkeit ist unter anderem auch deshalb eine große Herausforderung: Es geht um eine Zeit, deren Machthaber mit dem Humanismus gebrochen hatten, die die Gesetze, das Recht, moralische Normen jeden Augenblick verletzten.

Imre Kertész hat es so formuliert, dass die Menschheit in dieser Zeit – in kulturellem Sinn – auf den Nullpunkt zurückfiel: Was seitdem auf keine Weise zu erklären ist. Seitdem ist allerdings nichts geschehen, was den Schock des Holocaust hätte überwinden können. Und ich füge hinzu: Es wurde auch nicht wirklich probiert. Der Versuch der Aufarbeitung wurde an manchen Orten in der Welt unternommen, anderswo können wir nicht einmal die Absicht dazu erkennen. Im Falle von Schicksalslosigkeit folgen wir einer Seele: Dies ist eine lineare Geschichte, deren Wesen entsprechend „unserer Übereinstimmung” mit Kertész auf das dramatische Ende zustrebt. Es gibt keine großen Geheimnisse, keine bedeutenden Wendepunkte, in Ermangelung dieser dramatischen Knotenpunkte ist es außerordentlich schwer, daraus einen Film zu machen. Genauer gesehen existieren diese Punkte, sie sind nur im Inneren, in der Stille, sie tauchen ganz unbemerkt auf und führen zu einem Ende, das auch die dramatisch geschilderten Geschichten im Allgemeinen beschließt, hier allerdings gibt es keine fassbaren, eindeutig dramatischen Momente. Die Menschen glauben im Allgemeinen, dass die Schrecken allmählich gesteigert werden müssen, damit ihre Schilderung die Wirkung erreicht. Das ist nicht allgemein gültig. Wir möchten beispielsweise im Laufe des Films in einem Menschen bleiben, nur ihm folgen: Seine eigene Geschichte gerät plötzlich in das Universum des Holocaust.

…Kann man vom Einzelnen auf das Allgemeine schließen?

Es ist so: Wir folgen einer Seele bis zum Ende, deren Weg nun einmal durch die Schreckenszeit führt. In diesem Sinne interessiert mich nichts anderes, als die Sicht von dieser Seele aus. Meine Absicht ist zu sehen und zeigen, wie viel dieser Junge, die Hauptfigur, von der ihn umgebenden Welt sehen will. Das Wesen der „Technik des Verstehens” ist, dass er nicht alles sehen will, denn sein einziges Ziel ist das Überleben. In diesem Interesse muss er wichtige Entscheidungen treffen: Er muss entscheiden, was er von der Welt spüren will, im Grunde genommen trotz allem, was um ihn herum geschieht. Das ist für uns, die Filmemacher, auch eine Art hilfreicher Schutz. Ich möchte eine Technik ausbauen, dass wir dies dennoch – fast unmerklich – auf Tatsachen aufbauen können.

…Denken Sie an Archivfilmaufnahmen?

Ja. Ich will den Jungen zum Teilhaber der kaum gekannten, kaum dokumentierten Realität machen. Aber wir möchten nicht solche heute schon äußerlich zu nennenden Materialien nutzen, die jeder kennt.

…Ich habe gelesen, dass sie mit Kertész vereinbarten, dass sich der Film der direkten Darstellung der Schrecken enthält. Kann man von einer gewissen Selbstbeschränkung des Regisseurs sprechen?

Ich will mich nicht um jeden Preis an dem Geschehenen festhalten. Wie Kertész sagt, war nicht der Schäferhund die Hauptsache, den sie auf die Menschen hetzten, sondern dass inzwischen ganz im Stillen ein Mensch zugrunde ging. Ich halte das auch für wichtig. Der Junge wird mit den Schrecken zusammentreffen, aber diese Konfrontation überträgt auf ihn die Kraft der Zeugenschaft, was das Existieren in dieser Grenzsituation ausgleicht. Dadurch, dass er so dem Entsetzen begegnet, geschieht dennoch alles, die Geschichte kann nicht rückgängig gemacht werden, sie verläuft unabhängig vom Standpunkt.

…Wie sind Sie mit dem Buch Schicksalslosigkeit und seinem Autor zusammengetroffen?

Ich bekam von meinem Kollegen Péter Barbalics das Buch, um darüber meine Meinung abzugeben – noch nicht als Regisseur, sondern als Kameramann. Da war ich gerade auf dem Weg nach Marokko, um Malena zu drehen: Ich nahm es mit. Beim Lesen spürte ich immer deutlicher, dass der Band eine Sprache spricht, der ich in der ungarischen Literatur noch nicht begegnet war. Der Nobelpreis für Kertész ist der Triumph der Sprache und nicht der des Themas. Ich las Schicksalslosigkeit und kam nicht los davon. Ich wusste, dass jeder – einschließlich Kertész – darauf wartet, was ich sagen werde. Ich kehrte heim, teilte meine Meinung mit, danach folgte eine vorübergehende Stille. Allerdings tauchte Zsuzsa Radnóti, die Chefdramaturgin des Theaters vígszínház auf, der ich begeistert erzählte, wie sehr mir das Buch gefallen hatte – und der ich – ähnlich wie Barbalics – sehr dankbar bin. „Mach keine Witze, ich treffe Kertész jede Woche!” – sagte sie, die offensichtlich noch aus der Gemeinschaft mit ihrem Ehemann István Örkény die Freundschaft mit Imre hielt. Sie organisierte ein Abendessen, um uns zusammenzubringen. Ich traf Kertész hier vor zweieinhalb Jahren zum ersten Mal in meinem Leben. Imre kam schon mit einem Drehbuch für den Film zu dem Abendessen, das er mir – während ich ihm begeistert erzählte, wie sehr mir das Buch gefallen hatte und er freudig errötend zuhörte – in die Hand drückte. Das Drehbuch war in Zusammenarbeit mit György Spiró entstanden: Er erwartete eine Stellungnahme von mir: Kann man aus diesem Drehbuch einen Film machen? Nachdem ich es gelesen hatte, ging ich zu ihm hinauf: Als ich bei der Hälfte meiner Antwort angekommen war, stand er auf und bat mich, sofort den Produzenten anzurufen: Er möchte, dass ich die Regie führe. Imre sagte, von dem, was er geschrieben habe, möchte er wiedersehen, was ich als unsere Konzeption vortrug. Darauf trafen wir uns öfter und es entstand eine große und enge Freundschaft zwischen uns: Ich spüre seine rückhaltlose Unterstützung und Liebe, ohne die der Film Schicksalslosigkeit nicht entstehen könnte.

…Wie haben Sie vom Nobelpreis erfahren?

Wir waren gerade vor der Zuerkennung des Preises in Cannes und umkreisten die potentiellen Förderer, die auch schon vor der Anerkennung von dem Vorhaben sehr begeistert waren und erhielten das Versprechen, dass der ungarische Staat auf jeden Fall auch in den Film einsteigen wird, aber zu der Zeit waren wir noch dabei, Quellen zu finden. Die Entscheidung der Kommission wurde verkündet und sehr viele riefen mich vom Ausland aus an, weil Imre nicht zu Hause war. Aber sie sagten – und das wage ich nur sehr vorsichtig und glücklich zu wiederholen-, dass „…Ihre Namen schon so verbunden sind, um zu wissen, dass wir nicht an der falschen Stelle gratulieren.” Imre war zu dieser Zeit nicht zu erreichen. An diesem phantastischen Tag konnte auch ich ihn nirgends finden, zu später Stunde rief er mich allerdings aus Berlin an, um auch mit mir seine Freude zu teilen. Das ist sein großartiger Erfolg: Dass wir inzwischen zusammenarbeiten, kann ich nur als Fügung bezeichnen, während ich spüre, dass das Schicksal etwas von mir, von uns will: Das erste Zeichen davon war, dass mir das Buch Schicksalslosigkeit in die Hand gedrückt wurde. Imre hält auch weiterhin an seiner Entscheidung, an mir fest. „Deshalb werden wir doch keinen anderen Film machen” – sagte er mir um diese mitternächtliche Stunde ins Telefon.

…Wo stehen jetzt die Vorbereitungsarbeiten für den Film?

Am 30. September möchten wir mit dem Drehen beginnen: Heute, nach unserem Gespräch gehe ich zur achten Auswahl von Kindern, in diesem Moment sind wir weit davon entfernt, dass ich vermelden könnte: „Wir haben ihn!”, aber wir begegneten schon zwei-drei Jungen, die ich gern wiedersehen würde. Die Kulissen entstehen, es gibt schon vorgegebene Schauplätze: Alle drei Lager müssen teilweise aufgebaut werden, das wird eine gigantische Arbeit …

…Darf ich Sie nach den Drehorten fragen?

Alle befinden sich in Ungarn, in der Nähe von Budapest. Wir möchten, dass die Kinder jeden Abend nach dem Drehen nach Hause gehen können. Es wird auch so für sie schwer genug sein, die gewaltige seelische Belastung, der sie während des Drehens ausgesetzt sind, auszuhalten.