Die nüchterne Realität und deren Folgen

Das Heer des Sultans Suleiman nahm 1541 die Burg in Buda ein und bereitete damit dem unabhängigen Königreich Ungarn ein Ende. Das Land spaltete sich in ein mehr oder weniger autonomes Siebenbürgen, einen von den Türken 150 Jahre lang besetzt gehaltenen mittleren Teil und Nord-Westungarn unter der Herrschaft der Habsburger. Die Spaltung war nicht nur geopolitisch, sondern auch ideologisch geprägt: Der moslemischen Übermacht stand kein einheitliches Christentum im Wege. Ebenso wie früher die Bauernkriege, schlugen die Wellen der Reformation und Gegenreformation auf Ungarn über.

Die letzten Tage der Osmanen in Mitteleuropa

Die ungarischen Magnaten als die führende Gesellschaftsschicht waren in dem dreigeteilten Land zwischen dem Kaiser und dem Sultan hin- und her gerissen.
Zwar herrschte seit 1663/64 ein Friedensabkommen bzw. ein Waffenstillstand zwischen den beiden, was die Zeitgenossen jedoch keineswegs als Garantie betrachten durften. Zumal suchten zu jener Zeit Naturkatastrophen und die Pestseuche das Land heim. Ungarns Bevölkerungsverlust erreichte mit über einer Million Einwohner ein bedrohliches Ausmaß.

Allahs Kämpfer vor der Wiener Burg

Nach dem Ende des 30jährigen Krieges betrachteten die kaiserlichen Beamten Ungarn weiterhin als ein unterworfenes Land. Die von Wien aus gesteuerte zentralistische Verwaltung ungarischer Komitate löste viel Unsicherheit unter den Einheimischen aus, die eigentlich mit der Bekämpfung der wirtschaftlichen Depression beschäftigt waren. In den Auseinandersetzungen zwischen den Herrschenden und ihren Untertanen, Katholiken und Protestanten war selbst der Adel sich nicht einig darin, welchen Weg er einschlagen sollte. Einige Vertreter des Hochadels scharten sich um den Wiener Hof und vertraten die Interessen der Habsburger. Andere dachten eher patriotisch: Sie erwarteten, dass der Kaiser Ungarn vom türkischen Joch befreien würde und hofften insgeheim darauf, dass er gleich danach auch Ungarn räumen würde.

Ein anderer Teil der Aristokratie plädierte ebenfalls für die Befreiung des Landes, nur eben im Sinne einer Befreiung von den Habsburgern. Zu diesem Zweck war man auch bereit, für militärische Stärke und Finanzhilfe zu appellieren. Vertreter dieser Politik waren die Kuruzzen um den siebenbürgischen Fürst Emmmerich Thököly. Hin und wieder gelang es ihnen, ursprünglich ungarische Gebiete zurückzuerobern; dennoch waren die Türken in erster Linie an der Ausdehnung ihres eigenes Reiches interessiert.

Kaiser Leopold I. (1658-1705) sah sich mit einem erneuten Vorstoß der Türken konfrontiert. Der Sultan legte seine Konflikte mit Polen und Russland bei und wandte nun seine geballte Kraft gegen die Habsburger: Das Heer marschierte via Belgrad in Richtung Wien. Um diesen groß angelegten Angriff abzuwehren, musste Wien erneut eine Koalition „zusammenzimmern”. Sie bestand aus Polen, den Kurfürsten von Bayern und Sachsen und der Republik Venedig. Das Militärbündnis verfügte anfänglich über 80.000 Krieger.

Am 31. März 1683 überreichten die Gesandten von Sultan Mehmed IV. folgende Kriegserklärung: „…Wir sind im Begriffe, Dein Ländchen mit Krieg zu überziehen, und Wir führen mit uns 13 Könige mit 1.300.000 Kriegern, Fußvolk und Reiterei, und werden Dein Ländchen mit diesem Heer, von dem weder Du noch Deine Anhänger eine Ahnung hatten, ohne Gnade und Barmherzigkeit mit Hufeisen zertreten und Feuer und Schwert übergeben. Vor allem befehlen Wir Dir, Uns in Deiner Residenzstadt in Wien zu erwarten , damit wir Dich köpfen können; auch Du kleines Königlein von Polen (Johann III. Sobieski A.D.), tu dasselbe.”

Mitte Juli war es soweit. Die Osmanen überschritten die Grenze bei Bruck an der Leitha. Die tapferen Verteidiger der Wiener Burg, unter ihnen die bayerische Abordnung geführt vom Kurfürsten Max Emanuel, leisteten hervorragende und vor allem konsequente Arbeit. Am 12.September befanden sich die Angreifer bereits auf dem Rückmarsch nach Ungarn und wurden dabei von der gesamten Kaiserlichen Allianz verfolgt. Wien war verwüstet, die Lebensmittelpreise stiegen auf das Zehnfache, aber der strategische, man könnte sagen, historische Durchbruch war gelungen.
Ermuntert von dem unverhofften Sieg gingen die europäischen Türkenjäger zum Gegenangriff über. Damit begann die Operation „Befreiung Ungarns”.

Die nächste militärische Sensation erfolgte in der zweiten Oktoberhälfte 1683. Bei der Rückeroberung von Gran (Esztergom), setzte man die bereits in Wien bewährte Minentechnik ein. Sie vernichtete am Fuß des Festungsberges zahlreiche Gegner. Die schlagartig beginnende kalte Jahreszeit diente einem Waffenstillstand „à la Gentlemen´s Agreement”. Den Obdach suchenden bayerischen Soldaten, deren Zahl ohnehin um ein Sechstel sank, bereiteten die schlecht organisierten ungarischen Winterquartiere viele Qualen, vor allem weil es an frischen Lebensmitteln mangelte. Weder sanitäre Einrichtungen noch Lazarettpersonal waren vorhanden. Die bayerischen Soldaten und Knechte dienten in Ungarn als Hilfstruppe der Kaiserlichen Armee und wurden entsprechend behandelt.

Nach der schweren Niederlage der Osmanen bei Wien und Gran änderte sich plötzlich die weltanschaulich gefärbte Meinung, wonach Mustafas Heer unschlagbar sei. Diese Tatsache bestärkte unter anderem Papst Innozenz XI. darin, verstärkt die „Heilige Liga” in ihrem Kampf gegen die Türken zu unterstützen. Die bayerische Truppe konnte dadurch auf 18.000 Mann aufgestockt werden. Im Sommer 1684 befreiten sie zuerst die Festung von Visegrád, danach Waizen (Vác) und zogen dann Richtung Buda weiter. Doch den 40.000 Deutschen und 9000 ungarischen Soldaten gelang es diesmal nicht, Pascha Kara Mehmed zu überlisten.

Dadurch verschlechterte sich die persönliche Situation des beauftragten Heerführers Max Emanuel. Um das Vertrauen des großen Koalitionspartners zurückzugewinnen, ehelichte der bayerische Fürst nach der nächsten obligatorischen Winterpause die Kaisertochter Marie Antonie. Gleich nach der Hochzeitsnacht führte der frischgebackene Gatte seine Truppen direkt in die Kampfhandlungen.
Den Gipfel seiner Militärkarriere erreichte der tatendurstige Befehlshaber bei seinem zweiten Versuch der Befreiung von Buda. Das 61.000 Mann starke Allianzheer, an dem bayerische, badische, sächsische, schwäbische, fränkische und brandenburgische Divisionen beteiligt waren, trafen sich am 5. Juli 1686 vor der Budaer Burg. Max Emanuel ordnete zunächst die Verschanzung der Burg sowie die Vorbereitung der Schützenräben an. Danach befehligte er eine Dragonerattacke gegen die Schiffsbrücke zwischen Pest und Buda. Erst danach begann er mit der Einkesselung von Ofen. Der schwachen türkischen Verteidigungsbesatzung gelang es, die Burg bis Anfang September zu halten, was viele das Leben kostete. Hinzu kam ein unerwartetes Ereignis: Im einstigen Palast von König Matthias detonierten 8000 Zentner Schießpulver, was sogar auf der Pester Seite riesige Schäden verursachte. Anfang September kapitulierte der Großwesir Pascha Süleyman und die Alliierten feierten ihren Sieg. Der Oberbefehlshaber Herzog Carl von Lothringen versuchte, den großen Erfolg auf seinem Konto zu verbuchen. Dem für den Sieg tatsächlich verantwortlichen Max Emanuel gelang es hingegen nicht, in den Augen seines Wiener Schwiegervaters als Held dazustehen. Ihm und seinen bayerischen Soldaten gelang es lediglich, an der Verteilung der Budaer Beute teilzunehmen. Den größten Schatz, die Bücherbestände aus der wertvollen Bibliothek des Königs Matthias Corvinus, erhielt allerdings der Kaiser bzw. seine Hofbibliothek.

Die Ansiedlungswelle

In der fast menschenleeren ungarischen Tiefebene musste die Wirtschaft aufgebaut werden. Zu diesem Zweck diente das Einrichtungswerk vom Jahre 1687. Man versuchte, die Siedler mit verschiedenen Vorteilen ins Land zu locken: Steuerfreiheit für fünf Jahre, (was allerdings um eine Neubürgertaxe von fünf bis sieben Gulden ergänzt wurde), kostenlose Grundstücke und allgemeine Immunität. Zuerst kamen Soldaten, bayerische und österreichische Handwerker, danach auf dem Schiffsweg süddeutsche Einwanderer. Besonders beliebte Ziele waren Pest und die Komitate Tolna, Baranya und Veszprém. Die deutschen Baumeister begannen, im Auftrag von Wien die Budauer Burg und Kasematten wiederherzustellen. Dank des großangelegten Ansiedlunsgprojektes bildeten deutsche Einwanderer bald 47% der Ofener Bevölkerung. So ist es kein Zufall, dass zeitgenössische Berichterstatter behaupteten: „metropolis Hungariae germanica facta est”.
Gleichzeitig begann eine türkische Welle in Deutschland (1683-1690). Allerdings handelte es sich hier um keine ganz freiwillige Einwanderung: Militärische und andere Würdenträger des geschlagenen Osmanischen Reiches wurden nach Deutschland verschleppt. Bald bildeten sie in München ihre eigene Zunft: die der Sesselträger. Die zu Dienern avancierten Türken (viele von ihnen starben, da sie an die körperliche Arbeit nicht gewöhnt waren) verbreiteten die türkische Tee- und Kaffekultur. Die junge Generation von Mustafas, Menems oder Zephiras, die sich schnell in christliche Maximilians, Michaels und Marias verwandelten, erlernten mit der Zeit problemlos den bayerischen Dialekt. Mit dem Friedensschluss von Karlowitz (1699) zwischen dem Kaiser und dem Sultan wurde ein Gefangenenaustausch vereinbart. Einige türkische Familien hatten jedoch mittlerweile Wurzeln in Bayern gefasst und hatten nichts dagegen, bei ihren ausländerfreundlichen bayerischen Arbeitgebern zu bleiben.