Von der Aufklärung zum Geheimdienst
Nach dem Tod der beliebten Maria Theresia im Jahre 1780 knüpfte die ungarische Nation zunächst einige Hoffnungen daran, dass ihr männlicher Nachkomme Joseph die Stafette übernehmen würde. So blickte man zuversichtlich nach Wien, vom Königswechsel Kontinuität erwartend.
Die bis dahin eingeführten Reformen von Maria Theresia hatten dafür gesorgt, dass der tatsächliche politische Spielraum des ungarischen Adels bei allen Privilegien kleiner und die Beziehung des Landes zum Haus Habsburg immer enger geworden war. Dabei war die „Mutter der Nation” in ihren Reformen vorsichtig und gemäßigt verfahren.
Der junge und tatkräftige Joseph II. verfolgte hingegen mit aufgeklärt absolutistischen Machtmitteln eine Politik der beschleunigten Modernisierung.
Und gleich am Anfang machte er einen Fehler: Er verzichtete auf die traditionelle Krönung mit der Stephanskrone und damit den Eid auf die ständische Verfassung – für den ungarischen Adel eine unerhörte Provokation. Statt dessen machte er sich in seinem Hut an die Arbeit und ging als „König mit dem Hut” (ungarisch: kalapos király) in die ungarische Geschichte ein. Also wenn man das so nehmen will, nach ungarischem Traditionsrecht der Heilgen Krone hätte er sich gar nicht als ungarischer König betrachten können…
Die Zahl seiner ins Leben gerufenen 6000 Dekrete und 11.000 neuen Gesetze sorgten für Veränderungen in allen Bereichen des Lebens. So wurde eine zentralisierte Verwaltung ohne gewählten ständischen Amtsträger eingeführt, hingegen mussten die Magnaten wieder Steuern zahlen, die Protestanten bekamen ihre langersehnte Religionsfreiheit und er kündigte an, dass der Reichstag nicht mehr einberufen werden müsse. Als die ungarischen Stände an den Tiefpunkt ihrer Enttäuschung gelangten, kamen ihnen die vielversprechenden Signale des Interesses aus Preußen sehr wohl entgegen.
Die Entstehung eines Berlin-Wien-Ofen Dreiecks
Der preußische König Friedrich Wilhelm II. erteilte zunächst dem in Wien lebenden preußischen Diplomaten Baron Jacobi-Klöst den Auftrag, in Ungarn nach unzufriedenen einflussreichen Magnaten zu suchen, die bereit wären, gegen Joseph II. vorzugehen. Als Köder sollte der Bote eine preußisch-türkische Unterstützung und die Wiederherstellung der ungarischen Verfassung anbieten.
Ende 1788 reiste der Preuße nach Ungarn und fand dort in der damals einzigen organisierten politischen Institution Ansprechpartner: in der Komitatsversammlung. Der Zeitpunkt seiner Geheimmission erwies sich als günstig, da die von Wien verlangten Steuerlasten sich aufs Mehrfache erhöhten – was in erster Linie den ohnehin nicht besonders gut bemittelten Kleinadel traf. Dieser bildete übrigens nicht die einzige politische Gruppe in der Monarchie, die die Zukunft ihres Landes in der preußischen Orientierung suchte. Auch eine Gruppierung in Galizien stand mit Berlin in Verbindung und strebte nach der Wiedervereinigung mit der Heiligen Krone.
Auf offene Ohren stieß Baron Jakobi in den Reihen der Freimaurer. Nach österreichischem Vorbild genehmigte der „König mit dem Hut” in Ungarn etwa 300 Logen mit 800-900 Mitgliedern, die eine Brücke zwischen den Intellektuellen und den aufgeklärten Adligen herzustellen suchten. Personen aus diesen beiden Schichten bildeten den Boden für antifeudale Ideen. In dieser Zeit voller Erwartungen und Spannungen kam die Nachricht über die französische Revolution von 1789.
Der Dichter János Batsányi widmete dem historischen Ereignis sein emphatisches Gedicht
„Auf die Wandlungen in Frankreich”:
Völker dieser Erde, die ihr noch ertragen
Müsst der Knechtschaft Fesseln, noch
nicht konntet wagen,
An der Tür des Kerkers, eurem Sarg, zu
rütteln,
Um das Joch der Herren trotzig
abzuschütteln;
Und auch ihr, Tyrannen euer Untertaten,
Schaut, um euer Schicksal im Voraus zu
ahnen,
Auf Paris! Erstaunend werdet ihr dann
sehen,
Grad so viel es allen Henkern einst
ergehen!
(Übersetzung von Martin Remané)
Wegen der allgemeinen Unzufriedenheit in Ungarn griff der inzwischen schwerkranke Kaiser und König Joseph II. zu einer spektakulären Maßnahme: Er zog all seine umstrittenen Reformen zurück, versprach die Einberufung des Reichstages und schickte einen Geleitzug mit der Stephanskrone nach Ofen (Buda, siehe Bild). Der Transport war vier Tage lang unterwegs und als die Krone in Ofen ankam, war der König bereits tot.
Zeitgenössische Quellen berichten über kaum verhüllten Jubel in Ungarn mit viel Musik, Tanz und sogar Dankgottesdiensten. Mancherorts wurden habsburgische Fahnen verbrannt und statt Trauerkleid trugen die Leute die vielfarbige Nationaltracht. Es wurden bewaffnete Wachen zum ehrenvollen Empfang des Staatskleinods aufgestellt. Seit Rákóczis Zeiten hatte es keine derartige demonstrative nationale Begeisterung gegeben.
Der neue Herrscher und seine Maßnahmen
Bereits in den ersten Tagen (März 1790) der Machtübernahme ließ Kaiser Leopold den ungarischen Ständen ausrichten, dass nun der Wiederherstellung der alten Verfassung nichts mehr im Wege stünde. Der Reichstag war für Ende Mai 1790 in Ofen einberufen worden. Leopold nutzte die bis dahin verbleibenden drei Monate, um mit Friedrich Wilhelm II. eine Art Versöhnung zu erwirken. Dies tat er aus zwei Gründen: Einerseits wollte er seine Innenpolitik mit der Befriedigung seiner ungarischen Malkontenten verfolgen und ihre geheime Verbindung mit Preußen brechen; andererseits wollte er Preußen als Mitglied der Antihabsburgischen Koalition neutralisieren. Auf den Briefwechsel zwischen den gekrönten Häuptern folgte eine persönliche Verhandlung, die am 12. Juni 1790 im schlesischen Reichenbach stattfand.
Das war genau der Zeitpunkt, zu dem die Ofner Versammelten die heißeste Phase ihrer Debatten erreichten und die untere Tafel des Reichstags mit ihren rebellischen Gedanken nicht mehr aufzuhalten war. Um die in Aussicht gestellte preußische Unterstützung endlich zu konkretisieren, entschieden sich die Abgeordneten eine Abordnung nach Reichenbach zu entsenden. Leopold wollte das verhindern und bedrohte die ungarische Opposition im Reichstag mit einem Hochverratsprozess. Gleichzeitig verkündete er, dass ihm alle Namen der komplottartigen „Ofen-Berlin-Koalition” bekannt seien.
In Wirklichkeit war er bloß bemüht, alles in Erfahrung zu bringen, was in seinem ungarischen Kronland auf allen Ebenen vor sich ging. Zu diesem Zweck etablierte er eine Geheimpolizei, mit deren Führung Franz Gotthardi, der ehemalige Pester Polizeidirektor beauftragt wurde. Er war mit beneidenswerten Mitteln ausgestattet: eigene Büroräume in der Hofburg, ein Jahresgehalt von 2100 Gulden plus 400 Gulden Spesen. Die wahre Grundlage seiner Arbeit bildeten jedoch die mehreren Dutzend treuen Berichterstatter, die von Ofen über Pressburg bis Lemberg (heute Ukraine, Lwiw) überall mit wachsamen Augen präsent waren. Zum Tätigkeitsfeld Gotthardis gehörte die Herbeischaffung aller möglichen Informationen, deren Auswertung nicht zuletzt durch die Beeinflussung der potentiellen Gegner eine flächendeckende Kontrolle garantierten. Er schreckte nicht vor Methoden zurück, die eine ebenfalls deutschsprachig agierende spätere Geheimpolizei als „Zersetzung” bezeichnet hatte.
Er versuchte beispielsweise zwischen die verschiedenen Freimauerlogen einen Keil zu treiben. Der in München lebende Historiker Denis Silagi zitiert in seinem Buch „Ungarn und der geheime Mitarbeiterkreis Kaiser Leopolds II.” Gotthardi selbst dahingehend, worin er den Schwerpunkt seiner Arbeit sah: „Von Leopold II. erhielt ich den besonderen geheimen Auftrag (…) über Martinovics (…) ein scharfes Auge zu tragen, auf all ihr Thun, Lassen und Handlungen zu wachen, und sie als meine besonderen Freunde zu erhalten.”
Die Jakobinergruppe in Ungarn
Wer war diese – verwenden wir wieder einen späteren Polizeijargon – Zielperson.
Der Abt Ignácz Martinovics, ein früherer Lemberger Universitätsprofessor, Polihistor und nicht zuletzt einer der Beichtväter des seligen Joseph II. war tatsächlich ein würdiges Objekt der Neugierde. Die Möglichkeit, sich mit ihm anzufreunden, ergab sich für Gotthardi in Ofen, im Sommer 1791.
Zu dieser Zeit erfasste Leopolds politische Steuerung von oben beinahe alle Schichten. Er ließ von sprachgewandten Autoren Flugblätter und Pamphlete mit aufgeklärtem Gedankengut verfassen und setzte seine Spitzel im Kreise der Leibeigenen ein, womit er erreicht hatte, dass die Bauern sich zum Widerstand gegen ihren Grundherren entschieden. Gleichzeitig bewegte er die ungarischen Stände dazu, mit der Wiener Regierung endgültig Versöhnung zu schließen.
Auf der anderen Seite entfalteten sich auch die Freimaurer und Jesuiten.
Ignác Martinovics (siehe Bild) übernahm, von seinem Ehrgeiz getrieben, Gotthardis Auftrag, sich unter das Landvolk zu mischen und Flugschriften gegen die ungarische Verfassung und den Klerus zu verfassen. Damit erhielt er den Titel des Hofchemikers und bekam finanzielle Unterstützung. Martinovics, der aufgeklärte Reformator und nach einer Amtsposition strebende Wissenschaftler wollte seine Tätigkeit nach Leopolds Tod, in der Ära von Kaiser Franz II. ebenfalls fortsetzen und schickte seine Berichte fleißig weiter nach Wien. Seine Briefe blieben jedoch ungeöffnet und die Blütezeit der Gotthardi-Martinovics Duo ging damit zu Ende.
Verletzt und beleidigt wie er war, suchte er nun Kontakt zu denjenigen, die er als Meisterspitzel davor angezeigt hat. Bald gründete er zwei Organisationen: die „Gesellschaft der Reformatoren Ungarns” und die „Gesellschaft für Freiheit und Gleichheit”. Ihre Zielsetzung formulierte er 1794 in dieser Form:
„Frage: Was für ein Gewalt tut der Tyrann den Rechten des Menschen an?
Antwort: Wegen der Gewalt des Tyrannen können die Rechte des Menschen zwar verstummen, doch sobald dieser eine gute Gelegenheit findet, die Ketten seiner Sklaverei zu brechen, ist er sofort verpflichtet, sich zu erheben.
Frage: Was bedeutet die Erhebung?
Antwort: Nichts anderes als den Aufstand der nationalen Kraft gegen die Tyrannen; das ist der letzte Zeitabschnitt der Sklaverei und der Morgen der Freiheit.”
In seinen Ambitionen setzte er auf den Kleinadel, der mit den befreiten Bauern die Führung des Landes übernehmen sollten. Danach wechselte er wieder die Front, hob als besessener Patriot alle Ressentiments des ungarischen Adels gegen das Haus Habsburg hervor und rief zu einem bewaffneten Aufstand auf. Seine Anhänger, die sogenannten „ungarischen Jakobiner” – teils junge Adelige, teils begeisterte Intellektuelle – vertraten die Meinung, wonach Ungarnland mit seinen neun Millionen Einwohnern durchaus eigenständig existieren könnte. Trotz der Konspiration dieser Idealisten, deren Zahl sicherlich kaum Hundert erreichte, wurde die Verschwörung bald aufgedeckt. Um die Gefährlichkeit der Bewegung zu übertreiben und damit auf seine Ankläger Eindruck zu machen, verkündete Martinovics vor dem Untersuchungsrichter, dass an der Vorbereitung der Geheimaktionen Tausende von Würdenträgern beteiligt waren und die Geburt seiner antihabsburgischen Ideen zu jenem Ofener Reichstag von 1790 zurückgingen. Er sprach von einer weitverzweigten Organisation mit Auslandskontakten nach Wien, u.a. zu Forster, der seinerzeit die kurzlebige Mainzer Jakobinerrepublik geleitet hatte.
Am 20. Mai 1795 wurden Martinovics und vier andere Anführer in Anwesenheit vieler Schaulustiger in der Burg von Ofen hingerichtet.
Diese Hinrichtung bedeutete für Jahrzehnte die Auslöschung der Idee der Revolution in Ungarn, die erst mit der sogenannten Reformzeit (ungarischer Vormärz) wieder an Terrain gewann.