„Wir beugen uns nimmermehr”
Das Lauffeuer der europäischen Revolutionen im Jahre 1848 erreichte Ungarn am 15. März, zwei Tage nach dem Aufstand in Wien und einen Tag vor dem in Berlin. Während im Pressburger Landtag der Führer der liberalen Opposition, Lajos Kossuth, die Abschaffung der Leibeigenschaft forderte, ging die Märzjugend von Pest um den Dichter Petöfi in ihrer Radikalität viel weiter.
Das Programm entstand im Café Pilvax. Neben der als selbstverständlich geltenden Befreiung der Bauern wurde ein Katalog von Forderungen aufgestellt, die als „Zwölf Punkte” in die ungarische Geschichte eingegangen sind. Die wichtigsten waren: die Pressefreiheit, die Gründung eines „verantwortlichen Ministeriums” (Regierung), die jährliche Einberufung des Landtags in Pest, der Auszug der fremden (d.h. österreichischen) Soldaten aus dem Land, das Prinzip der bürgerlichen Gleichheit, die Freiheit des Denkens, Glaubens und Gewissens. Die Zwölf Punkte bedeuteten eine Art Minimalkonsens zwischen denjenigen, die die soziale Revolution vertraten und der anderen Strömung der Öffentlichkeit, die vor allem die nationale Unabhängigkeit befürwortete.
Der 15. März gehörte jedoch noch den Radikalen. Mehrere Tausend Studenten, Handwerker und Bürger gingen zuerst zur Druckerei Landerer & Heckenast und nahmen symbolisch die Druckmaschine in Besitz, was die Aufhebung der Zensur bedeuten sollte. Die ersten frei gedruckten Texte waren die Zwölf Punkte und Petöfis „Nationallied”:
„Auf! Die Heimat ruft, Magyaren!
Zeit ist´s, euch zum Kampf zu scharen.
Wollt ihr frei sein oder Knechte?
Wählt! Es geht um Ehr und Rechte!
Schwören wir beim Gott der Ahnen:
Nimmermehr
Beugen wir uns den Tyrannen!
Nimmermehr!”
(Übersetzung von Martin Remané)
Dieses Gedicht wurde an jenem Tag noch mehrmals vom Dichter selbst vorgelesen (siehe Bild), wobei das Publikum die Worte des Eides mit deklamierte. Die immer größer werdende Menge ging über die Kettenbrücke in die Burg und forderte dort vom sogenannten Statthalterrat – eine Vertretung des Wiener Hofes – die Freilassung des Schriftstellers Mihály Táncsics, der wegen seiner Bücher verurteilt worden war.
Der geschwächte Wiener Hof kam dem ungarischen Willen in seinen sogenannten „Aprilgesetzen” entgegen. Nur die Stephanskrone und die auswärtigen Angelegenheiten sollten in Wien bleiben; das Kriegs- und Finanzministerium wurde hingegen von Pest aus verwaltet. Im Juli fand die erste Parlamentssitzung in Pest statt und die Regierung wurde gewählt: Graf von Batthyány wurde der Premier, Ferenc Deák Jusitzminister und Lajos Kossuth Finanzminister. Das Kabinett stand auf dem Boden der Verfassung und dachte nicht daran, eine Trennung von der Monarchie herbeizuführen.
Dem Wiener Hof gingen die ungarischen Freiheiten ohnehin zu weit. Die Kamarilla strebte einen direkten Konflikt mit Pest an. Dazu betrieb sie eine Art negatives Konfliktmanagement, indem sie Nationalitäten des Vielvölkerstaates gegen Ungarn mobilisierte.
Am stärksten war die kroatische Nationalbewegung unter der Führung des Bahns Jellacic – eines k.u.k.-Offiziers und romantischen Dichters.
Gleichzeitig verlangten die Wiener Herren von Ungarn, seine Loyalität gegenüber der Monarchie unter Beweis zu stellen, indem das Land Soldaten für den Habsburgischen Feldzug gegen Italien schicken solle – eine Forderung, die mit dem Selbstverständnis der Märzrevolution so gut wie unvereinbar war.
Die Kroaten versammelten sehr schnell eine 100.000 starke eigene Armee, ohne die Genehmigung der ungarischen Nationalversammlung zu erbitten – was einem Verfassungsbruch gleichkam. Gleichzeitig bedrohten serbische und bosnische militärische Freischärler die junge ungarische Demokratie. Die Regierung bat zunächst Wien um Vermittlung und als dieses friedliche Vorhaben scheiterte, trat Finanzminister Kossuth mit einem völlig anderen Programm an die Öffentlichkeit. Am 11. Juni 1848 erschien er im ungarischen Abgeordnetenhaus und improvisierte dort eine rhetorisch perfekt aufgebaute Rede, in der er um die Bereitstellung von 200.000 Soldaten und 42 Mio. Forint bat.
Seine Forderung begründete er zunächst mit der Analyse des Ungarisch-Kroatischen Konflikts: „Ihnen ist bekannt, meine Herren, dass die Nation noch zu jener Zeit, als sie nur den besonders Begünstigten ihre eigenen Rechte verteilte, Kroatien aller Rechte teilhaftig machte. Seit Árpád besaß Ungarn kein Recht, an dem Kroatien, seitdem es mit uns verbunden, nicht brüderlich Teil genommen hätte. Aber nicht nur, dass es jedes Recht mit uns geteilt hat; es erhielt noch besondere Vorrechte auf unsere eigenen Kosten.”
Seine Analyse der südslawischen Verhältnisse weckt gespenstische Assoziationen mit der jüngsten Vergangenheit dieser Region.
Kossuth hatte keine Illusionen in Bezug auf eine europäische Solidarität mit dem kämpfenden Ungarn. England sei zu weit und neige zur Neutralität, Frankreich sei mit dem eigenen Bürgerkrieg beschäftigt. Bemerkenswert ist, was er zum damaligen Deutschland sagte:
„Aus diesem Gesichtspunkte haben wir es auch aufgefasst und hielten es für unsere Pflicht, so wie Deutschland durch Einberufung des Frankfurter Parlaments den ersten Schritt zu einer Einheit getan hatte, allsogleich zwei unserer ehrenwerten Landsleute (…), nach Frankfurt zu senden, wo sie auch mit der der ungarischen Nation gebührenden und von ihr verdienten Achtung empfangen wurden. Aber weil eben die Frankfurter Versammlung noch in den Geburtswehen lag und noch kein Körper sich aus der Form entwickelt hatte, mit dem man die Unterhandlungen zum Ergebnis hätte bringen können, und dieses nur mit dem Ministerium geschehen kann, welches nach der Wahl des Reichsverwesers zu bilden ist, so ist noch jetzt einer unserer Gesandten dort, um in dem Augenblicke, wo jemand vorhanden sein wird, mit dem man sich in amtliche Berührungen einlassen kann, zu unterhandeln wegen jenes freundschaftlichen Bundes, der unserm Wunsche nach zwischen uns und Deutschland bestehen soll; so aber, dass wir von unsern Rechten, von unserer Selbständigkeit, von unserer nationalen Freiheit auch nicht ein Haarbreit abweichen werden.” (Dröhnender Beifall.)
Das lange Zitat zeigt nicht nur Kossuths eigentümliche Stilistik, sondern auch die Wichtigkeit eines demokratischen, vereinten Deutschlands in seiner Gedankenwelt.
Im Anschluss an seine Rede gelang es Kossuth, im Laufe einer Rundreise durch das Land die Honvéd-Armee zu rekrutieren. Es war höchste Zeit, da das kroatische Heer bereits im Herbst 1848 bis zum Velence-See vorgedrungen war. Bei Pákozd erlitt Jellacic jedoch eine entscheidende Niederlage. Danach marschierte die ungarische Armee bis Schwechat, um bei der zweiten Wiener Revolution zu helfen – allerdings zu spät.
Doch die große Wende stand noch bevor: Im Dezember 1848 wurde Kaiser Ferdinand V. durch einen Hofputsch abgesetzt. Der junge Thronfolger, Franz Joseph, akzeptierte die Aprilgesetze nicht mehr und erklärte die Mitglieder der Kossuth Regierung zu Rebellen. Darauf antwortete Ungarn mit bewaffnetem Widerstand. Zu diesem Zeitpunkt erreichte die Zahl der Honvéd Armee, die auch aus internationalen Einheiten wie Polen, Italienern und Deutschen bestand, 170.000 Mann. Die ungarischen Bestrebungen erhielten in der deutschen Presse einen umfangreichen Wiederhall. Die Neue Rheinische Zeitung erwies sich beinahe als ein Sprachrohr für die ungarische Sache: Freiligrath schrieb ein begeistertes Ungarn-Gedicht, Friedrich Engels lieferte Kommentare zur aktuellen Situation.
Trotz der europäischen Aufmerksamkeit war die Lage in Ungarn alles andere als beneidenswert: Von Norden, genauer gesagt aus Galizien, griff die österreichische Armee an, im Südosten fielen Rumänen und Sachsen in Siebenbürgen ein, von Süden über die Drau und Donau rückten die Kroaten vor und an der Westgrenze stand Windischgrätz mit seinem starken Heer. Im Januar 1849 waren Buda und Pest endgültig besetzt. Von da an verlagerte sich das Hauptquartier der revolutionären Ungarn nach Debrecen. Bald darauf erreichten die Kampfhandlungen ihren Höhepunkt: Franz Joseph bat den russischen Zar Nikolai um Hilfe. Postwendend kamen 194.000 russische Soldaten, die im Verein mit österreichischen und kroatischen Truppen die Honvéd-Armee zum 11. August 1849 endgültig besiegt hatten.
Heinrich Heine trauert in seinem Gedicht „Im Oktober 1849” der ungarischen Revolution nach:
„Wenn ich den Namen Ungarn hör…,
wird mir der deutsche Wams zu enge.
Es braust darunter wie ein Meer,
Mit ist als grüßten mich Trompetenklänge!
Es klirrt mit wieder im Gemüt
Die Heldensage, längst verklungen,
Das Eisern wilde Kämpenlied –
Das Lied vom Untergang
der Nibelungen.
(…)
Und diesmal hat der Ochse gar
Mit Bären einen Bund geschlossen –
Du fällst; doch tröste dich, Magyar,
Wir andre haben schlimmre
Schmach genossen.
Anständige Bestien sind es doch,
Die ganz honett dich überwunden;
Doch wir geraten in das Joch
Von Wölfen, Schweinen und gemeinen Hunden.”
Die Niederlage der Revolution sowie die Hinrichtung von 13 Generälen (siehe Bild) und ungefähr vierzig Offizieren in Arad und die Inhaftierung von zweitausend Soldaten und Offiziere sind ins ungarische Bewusstsein als eine nationale Tragödie eingegangen – wie die Schlacht bei Mohács (1526).
Dabei stellte sich mit der Zeit immer mehr heraus, dass die Dynastie geschwächt aus ihrem Pyrrhus-Sieg herausgekommen war. Die Energien der ungarischen Gesellschaft blieben intakt und mit dem Ausgleich 1867 zwischen Wien und Budapest gingen zahlreiche Forderungen der Revolution in Erfüllung.