Artikel aus dem Neuen Pester Lloyd

Ungarn, offenes Land
von Wilhelm Droste

Ungarn macht es seinen Besuchern leicht. Vom milden Frühling bis tief in den warmen Spätsommer ist das öffentliche Leben so schwingend angenehm, als könnten Donau, Theiß und Plattensee lässig das fehlende Mittelmeer ersetzen. Die Ungarn sind meist freundlich und unkompliziert, immer bemüht, mit allen Möglichkeiten der Grammatik ihrer Hände und Füße den Fremden verständlich zu sein. Obst und Gemüse sind noch voll von der Süße der wirklichen Sonne, und die guten Weine setzen einen Geist frei, der Seelen verbindet. Dieses Fest ist für den Westtouristen darüber hinaus geradezu unanständig billig. Auch das hebt die Stimmung. So ist es kein Wunder: Ungarn macht glücklich. Die Welt hat es längst erkannt und flutet in Strömen auf das kleine Land zu. Kaum einer, der nicht angetan nach Hause zurückkehrt. Dabei sind es die unterschiedlichsten Menschen, die ihr Glück auf ungarischer Erde finden. Steinreiche Luxusjäger aus Düsseldorf sind darunter, die vom Mercedes aus auf eigens reservierte Hirsche schießen, aber auch junge Tramper aus Chemnitz, kein Geld in den Taschen und Begeisterung in den Herzen.

Ungarn versteht es, Krämpfe zu lösen. Das ist vielleicht die erstaunlichste Zauberkraft des Landes. Nicht nur die heißen Wässer bewirken dieses Wunder, die überall im Land hervorquellen und mit den Stoffen der Erdentiefe die Menschen heilsam entlasten.

Auch die Kleinheit des Landes ist entkrampfend. Klein sein heißt Übersichtlichkeit. Durchsichtigkeit. Budapest ist die einzig wirkliche Stadt. Jeder Fleck auf dem Lande ist bei aller Abgeschiedenheit doch auch schnell zu erreichen. Für trostlose Anonymität und kaltes Entfremden ist einfach kaum Platz im Kleinstaat der Ungarn. Hier kennen die Menschen einander. Film und Fernsehen zeigen Bilder, und jeder weiß, ach ja, hier und dort haben sie gedreht, und den, den kenn’ ich doch.

Das verkrampfte, jahrzehntelange Festhalten an planwirtschaftlicher Starrheit hat in Ungarn wie überall in Osteuropa – wenn auch unfreiwillig – dafür gesorgt, dass manch Gutes gerettet wurde. So garantiert das allgegenwärtige Improvisieren an den gravierenden Mängeln vorbei – touristisch betrachtet – oft ein reizvolles Durcheinander. Nichts funktioniert reibungslos, dafür ist aber auch nichts unmöglich. Noch wichtiger ist die Rettung der Vergangenheiten. Die dogmatische Ignoranz grob gestrickter Kommunisten hat seltsamerweise mehr Geschichte vor dem Verschwinden bewahrt als die ignorante Herrschaft des dynamischen Geldes in den westlichen Ländern, wo blinder Bauboom jeden Blick zurück haushoch vermauert hat. Auch dieser direkte Blick auf stehengebliebene Geschichte ist heilsam entkrampfend. Erinnerungen werden animiert. So kann eine Fahrt nach Ungarn auch ein Rückfall in die Gebiete der Kindheit sein, zusätzlich begünstigt durch die wunderbar fremde Sprache, die gerade aus den Mündern der Kinder zauberträchtig klingt und garantiert unverständlich ist. Der Verlust der Sprache weitet die Augen, öffnet die staunenden Münder und kitzelt die Sinne.

Weil das Ungarnland so freundlich und arglos, so klein und liebevoll zu sein versteht, traut sich manch Reisender heran an das eigene Kindsein, vermag sich von festgewachsenen Zwängen zu lösen und fühlt sich nach seltsamer Wandlung um Jahre anders. Bislang in Schwerfälligkeit gebundene Kräfte werden als Neugier wach, aus Ernst wird Spiel, Falten der Strenge erobert das Lächeln zurück.

Nun mag es fast überflüssig erscheinen, bei den so zuverlässig wirkenden Beglückungskräften Ungarns noch ein Buch in die Welt zu setzen, mit neuen Schlüsseln für ein ohnehin schon offenes Land. Es reicht doch, wenn die Ungarn auf ihre rücksichtslos freundliche Art es immer wieder schaffen, die Fremden an Ort und Stelle aus ihren Reserven zu locken.
Das so gutgelaunte erscheinende Land schleppt nämlich an einer ungewöhnlich schweren Geschichte und steht gerade gegenwärtig wieder einmal da wie das biblische Kamel, das den Weg durchs Nadelöhr mit aller Gewalt passieren muss. Ungarn liegt, man hat es fast vergessen, in der Mitte Europas und hat daher das wundenreiche Glück zu verkraften, alle Erschütterungen dieses Kontinents in sich aufnehmen zu müssen.

Dabei fehlen den Ungarn nicht nur die Verwandten (die sprachverwandten Finnen sind weit weg im Norden), auch der ihnen zugewiesene geschichtlich-geographische Raum ist Unort geworden. Ungarn liegt nicht im Süden oder Norden, nicht im Westen oder Osten Europas, es liegt in einer längst unwirklich gewordenen Mitte, die die spaltungsüchtige Moderne einfach aus der Welt geschafft hat. Die größeren Landstädte liegen heute allesamt an den Grenzen des nach 1918 klein gewordenen Landes und sorgen mit ihren ausgeprägten Eigenheiten dafür, dass die Schaukel der inneren Gewichte Ungarns in der Schwebe bleibt. In Debrecen ist kalvinistischer Trotz zu Hause, in Pécs dagegen südlich lockere Katholizität, Miskolc schwitzt ungeniert unter einer veralteten Schwerindustrie, während Szeged sich als bescheidene Königin an den Ufern der blonden Theiß gefällt.

Budapest ist das übergroß geratene Herz des Landes. Fotos der Jahrhundertwende halten die Geburt dieser spannungsgeladenen Donaumetropole fest. Aladár Schöpflin erzählt davon, wie schwer sich die Ungarn überhaupt taten, Städte zu gründen, und wie wunderbar es dennoch gelang, Budapest auf die Welt zu bringen. Texte von zeitgenössischen ungarischen Schriftstellern beweisen mit ganz verschiedenen Stimmen, wie aufregend Budapest geraten ist. Die schwerste Herausforderung an den Leser ist sicherlich die „Ungarische Bildungsromanze” von Péter Balassa. In ihrer verspielten Sperrigkeit steht sie da, ein schwer zu erklimmender Fels, der davon zeugt, dass ein Ungar noch längst nicht verständlich werden muss, wenn man ihn sorgfältig ins Deutsche überträgt. Balassa ist dabei so einsam wie typisch, ein ungarischer Einzelgänger. Búcsú heißt Abschied. Dieses Wort mit dem dunkel versöhnlichen Klang ließe sich hoffend über das gegenwärtige Ungarn schreiben, das sich mitten im gewaltigen Versuch des völligen Umbruchs befindet. Der Abschied von vielen Lasten der Vergangenheit ist für das Land so unaufschiebbar wie lebensgefährlich. Mit allen Nerven suchen die Ungarn ihren Weg zu einer freiheitlichen Demokratisierung und können doch kaum verhindern, währenddessen immer tiefer in eine bodenlose wirtschaftliche Depression zu stürzen, abzustürzen vielleicht bis zu einer verheerenden Schwäche, die das Land erneut zum Spielball x-beliebiger Willkür macht. Fieberhaft wird gesucht nach dem dritten Weg, dem nicht-kapitalistischen, nicht-staatssozialistischen. Es gibt ihn bekanntlich nicht, diesen dritten Weg. Welch eine Feier, würden die Ungarn ihn erfinden.

Wilhelm Droste (1989), in »Der Neue Pester Lloyd«, Ausgabe 31/00

Der Autor dieses Essays, Wilhelm Droste, ist Dozent am Germanistschen Lehrstuhl der Budapester Universität ELTE, Schriftsteller, Literarischer Übersetzer, Leiter der Gruppe „három holló” („Drei Raben”: Übersetzungen – Feuilleton – Kultur) und Betreiber der Kaffeehäuser „Dürer” (ELTE) und „Eckermann” (Goethe-Institut Budapest)