Über den Eigensinn der ungarischen Sprache – Eine Liebeserklärung
Artikel aus dem Neuen Pester Lloyd
Von Wilhelm Droste
Keine Sehenswürdigkeit Ungarns ist so befremdend wie der Klang und das rätselhaft schlaue Innenleben der ungarischen Sprache. Gebäude, Siedlungen und Städte erinnern an die verschiedensten europäischen Muster, landschaftlich sucht man vergebens nach unfaßlichen Sensationen. Die Sprache aber ist auf erschütternde Art einmalig. Allein schon ihr Klang ist verblüffend und fremd, eine echte Hörenswürdigkeit. Das Ungarische kann noch so viele Fremdwörter in sich aufnehmen, es wird dennoch ein sonderbarer Einzelgänger in Europa bleiben, da helfen auch die sprachlichen Verwandtschaften zum Finnischen und Estnischen wenig. Das Land ist sprachlich einsam. Selbst Bezeichnungen, die international ähnlich klingen, fallen auf Ungarisch hoffnungslos exotisch aus. Ein Restaurant heißt étterem, ein Theater színház, der Bahnhof gar pályaudvar. Auch bei einem so gängigen Wort wie Revolution brät sich das Ungarische eine höchsteigene Sonderwurst. Sie heißt hier forradalom, aus dem Verb forrni gebildet, das kochen, sieden, wallen, gären und brausen bedeutet. So klingt der umstürzende Vorgang gleich erheblich vollblütiger als in der reserviert lateinischen Fassung.
Oft sind es gerade übernommene Wörter, die das ungarische seinen strengen Klanggesetzen so eigenwillig unterwirft, daß man in ihnen nichts Vertrautes mehr wiederfindet. Wer erkennt schon im spenót den Spinat, im muszáj das „es muß sein”, im blöffölni bluffen, oder, noch versteckter, im vigéc den Handelsvertreter, der sich wohl auch an manch ungarischer Tür mit der deutschen Frage „Wie geht’s?” vorzustellen pflegte. Rettet ein Wort bei seiner Magyarisierung seinen Originalklang, dann spielen die Buchstaben um so mehr verrückt. So verwandelt sich zum Beispiel Jazz ungarisch in dzsessz, ohne den geringsten Schaden dabei zu nehmen.
Grammatisch erweckt das Ungarische den Eindruck, sich mit dem ganzen Trotz des Einzelkindes von europäischen Sitten abzuwenden. Oft endet ein ungarischer Satz in der Wortstellung liebend gern dort, wo ein deutscher etwa beginnen würde. Johannes Müller wird ungarisch zu Molnár János, die Frau des Johannes Müller kann noch so sehr Elsbeth heißen, offiziell wird sie ganz schlicht, patriarchalisch und kompakt zu Molnár Jánosné. Auch die Zeit muß sich eine ungarische Verkehrung gefallen lassen. Aus dem 12. April 1896 wird ungarisch 1896 április 12. Ein vom übrigen Europa aus betrachtet markant unterschiedlicher Ordnungssinn durchweht die Sprache, ein Geist, der stets verdreht. Dabei ist das Ungarische keineswegs umständlich, sondern im Gegenteil stets auf Knappheit bedacht. Wortungetüme kommen vor, weil sich die Grammatik intim an die Worte klammert und dabei auch vor Eigennamen nicht halt macht. „Mit Ildikó” wird zu Ildikóval, „mit Goethe” zu Goethével. Dieses anhängende Prinzip ist sehr ökonomisch: Geld = pénz, mein Geld = pénzem, mit meinem Geld = pénzemmel. So sind ungarische Texte meist erheblich kürzer als ihre Übersetzungen in andere Sprachen.
Bei diesem Hang zur Dichte überrascht, daß noch dazu musikalische Geister den Klang diktieren. Vokalharmonie heißt das Grundgesetz: Helle Vokale vertragen sich nur mit hellen, dunkle lassen sich nur mit dunklen ein. Gyerek = Kind, gyerekek = Kinder, gyerekekkel = mit Kindern, dagegen aber ablak = Fenster, ablakok = (viele) Fenster, ablakokkal = mit Fenstern. Diese gleichzeitige Wirken von Musikalität und Dichte mag ein Grund dafür sein, daß bei den Ungarn in der poetischen Literatur traditionell die Lyrik an einsam führender Stelle steht und sich in ihr die sprachlichen Schätze des kleinen Volkes vor dem Zugriff der Welt verbergen, denn weder der Klang, noch die eigenwillige Dichte ungarischer Verse lassen sich unverletzt in fremde Sprachen übertragen.
Bei der Ökonomie des Ungarischen könnte der Verdacht aufkommen, die Sprache sei systematisch wie ein Computer, seelenlos logisch. Zauberhafte Kräfte der Verben aber verhindern Herzlosigkeit und Kälte, sorgen vielmehr für einen Geist der Beseelung, mit dem die starre Sachwelt immer wieder an die Schönheit der Bewegung und des Fließens erinnert wird. Viele Substantive verwandeln sich widerstandslos in Verben menschlichen Genusses. Tea = Tee wird zu teázni = Tee trinken, kávé = Kaffee zu kávézni = Kaffee trinken, bor = Wein zu borozni = Wein trinken, sör = Bier zu sörözni = Bier trinken, aber auch tehén = Kuh zu tehénkedni = sich wie eine Kuh genüßlich hinlegen, sich hinkuhen sozusagen.
Damit ist die Zauberkraft der ungarischen Verben noch nicht erschöpft. Sie ziehen den Täter in den Wortkörper des Tuns hinein: megyek = ich gehe. Auch die Richtung des Gehens verschmilzt mit dem Verb: elmegyek = ich gehe weg, bemegek = ich gehe hinein. Die größte Verschmelzungsleistung vollbringt das Verb für die Liebenden. Die Begierde, der Begehrende und der Begehrte, alles verfließt zu einem Wort: szeretlek, ich liebe dich. Das Ich steckt im K, das Du im L, die Liebe im szeret, das hintere E bindet ganz in der Musik des Wortes das Du an das Ich, die ewige Trennung von Subjekt, Prädikat, Objekt wird aufgehoben für diesen Sonderfall der Gefühle; ein schöneres Bett läßt sich der Liebe sprachlich nicht bereiten.
So kühn verschmelzend, wie die Verben im Ungarischen sein können, so empfindlich sind sie auch. Haben sie ein bestimmtes Objekt im Auge, dann wechseln sie betroffen ihre Endung. Utálok = ich verabscheue. Verabscheue ich etwas ganz Bestimmtes, das Leben zum Beispiel, dann heißt das Verb anders, nämlich utálom, utálom az életet = ich verabscheue das Leben. Solche sprachlichen Empfindsamkeiten machen das Erlernen des Ungarischen quälend schwer. Wie es den Ungarn beim Fremdsprachenerwerb kaum gelingt, ihren Akzent und andere Eigenarten gänzlich los zu werden, so ist es auch für den Ausländer nahezu unmöglich, das Ungarische in Fleisch und Blut zu übernehmen. Die Sprache ist wie ein Schutzwall, hinter dem die Nation sich mit all ihren Geheimnissen und Eigenarten fest verschanzen kann. Sie taugt im Kampf um eine souveräne Selbstbehauptung mehr als alle Waffen und Gelder dieser Welt.
Johann Gottfried Herder schrieb am Ende des 18. Jahrhunderts über die Ungarn: „Da sind sie jetzt unter Slawen, Deutschen, Wlachen und andern Völkern der geringere Teil der Landeseinwohner, und nach Jahrhunderten wird man vielleicht ihre Sprache kaum finden.” Zwei Jahrhunderte haben sie sich nun immerhin schon behaupten können, gegen Herders düstere Prophezeiung, die in Ungarn übrigens so gefürchtet und bekannt ist wie unter den alten Griechen das Schwert des Damokles. Gerade die isolierte Sprache, die Herder für den Schwachpunkt des kleinen, umzingelten Volkes hielt, hat ihre Stärke mit erstaunlichem Trotz beweisen können, sie ist vielleicht sogar das Kernstück der ungarischen Lebensphilosophie des ewigen Trotz-alledem.
Herrscht allgemein in der Sprache eine große Dichte und Logik, so erlaubt sie sich doch gelegentlich verrückte Umständlichkeiten und archaische Trägheit. Der Regen zum Beispiel fällt in Ungarn urväterlich träge, gewichtig und schön: esik az eső, wörtlich übersetzt: Es fällt das Fallende. So schön kann nur eine Sprache regnen. Phänomenal konservativ klammert sich das Ungarische auch an längst überlebte Traditionen. „Hogy tetszik lenni?” „Wie beliebt es zu sein?”, so altbacken kann ungarisch die Frage nach der aktuellen Laune lauten. Kein Wunder also, daß der schon erwähnte Handelsvertreter, der vigéc, die bequemere deutsche Variante wählte.
Das konservative Bestehen der Sprache auf umständliche Biedermeiereien kann den Reiz ewiger Verspieltheit haben, es gibt aber durchaus ungarische Sprachverschlafenheiten, die regelrecht bissig sind. Wenn heute der Direktor einer Fabrik seinen würdig ergrauten Fahrer mit János anredet und duzt, er selbst sich von ihm aber in steifster Sie-Form „igazgató úr”, „Herr Direktor”, nennen läßt, dann schlägt das liebenswert Konservative in unwürdig Reaktionäres um. Alle Reformen und Revolutionen scheinen die Sprachgewohnheiten der Ungarn kaum berührt zu haben. Der bis zur Willkür mächtige Gutsbesitzer vor den Weltkriegen jedenfalls wird mit seinem Kutscher verbal kaum anders umgesprungen sein.
Auch der Handkuß ist ein Überbleibsel der Geschichte. Er hat in Ungarn nichts von seiner habsburgischen Frische eingebüßt, auch sprachlich ist er quicklebendig: „Csókolom a kezét”, „Ich küsse ihre Hand”. Den Kindern kommt das viele Küssen sehr gelegen; sie küssen verbal sorglos jeden, der ihnen über den Weg läuft. „Csókolom” ist ein freundlich netter Gruß, mit dem man als Kind fast nichts falsch machen kann. Das so freundlich klingende Wort muß aber nicht immer freundlich gemeint sein. Ein restlos entnervter Gast kann zum Beispiel auch ganz hart „Csókolom, csókolom!” rufen und damit unhöflich einer heillos überforderten Kellnerin zu verstehen geben, daß er nun endlich zahlen will. So ein Kuß kann dann ganz fürchterlich klingen, etwa wie im Deutschen: „Nun kommen Sie doch endlich, verflucht noch mal!”
Wie das archaische Urgeröll in der ungarischen Sprache liebevoll oder aber auch stickig sein kann, so ist die Tendenz zur Versüßlichung ebenfalls zweigesichtig. Eltern taufen ihre Kinder vergeblich István oder Margit, Stefan oder Margarete, denn gerufen werden sie so in Ungarn nie und nimmer, allenfalls beim Verhör auf dem Polizeipräsidium. Aus István wird Pista, und, weil das A als Endung noch viel zu hart ist, Pisti, und da das noch zu groß klingt, kommt es zu der Verkleinerungsform Pistike, und weil das wiederum zu unpersönlich klingt, heißt der Arme schließlich Pistikém. Im Deutschen entspricht dem etwa „mein kleines, süßes Stefanchen!” Was sprachlich so klein und niedlich klingt, kann im realen Leben durchaus gestandene sechzig Jahre alt sein. Der Margit geht es um keinen Deut besser. Sie wird aus lauter Liebe zu Gitta (Grete) verkleinert, dann zu Gitti (Greti), endlich zu Gittikém (Gretichen).
Zu den problematischen Seiten der Sprache gehören sicher auch Gruß und Anrede, die regelrecht quälen können, weil oft unter den verschiedenen Sie-Formen die richtige nur schwer zu finden ist und die Du-Form zu vertraulich klingt. Ein sprachlicher Krampf legt sich leicht über manche Begegnung, die sprachlos vielleicht ganz angenehm zu werden versprach. Es fehlt einfach das Pendant zur im Deutschen üblichen Anrede mit Herr und Frau. Da weicht man verlegen auf Berufsbezeichnungen aus und kommt vor lauter Ausweichmanövern nicht mehr zu dem, was man eigentlich unbedingt hätte sagen mögen. Diese gelegentlichen Unbeholfenheiten werden die ungarische Sprache kaum daran hindern, ihren wuchernden Organismus vielzüngig weiterzuentwickeln. So kompliziert kann die Welt gar nicht werden, daß sie dem Ungarn die Sprache verschlüge.
Wilhelm Droste (1987)
•
• DER NEUE PESTER LLOYD – DIE DEUTSCHSPRACHIGE ZEITUNG UNGARNS
Ungarisch – ein goldener Käfig?
Ungarn, der Buchmesse-Schwerpunkt 1999.Warum die ungarische Sprache so allein ist?
Adam Nadasdy ist Professor für Anglistik an der Universität Budapest.Er hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht.
„Man kann auf alles Mögliche stolz sein, wenn man unbedingt will. Die Strauße werden wohl stolz darauf sein, dass sie nicht fliegen können – ein Unvermögen, das die meisten anderen Vögel in Verlegenheit bringen würde, aber sehen Sie sich an, wie schnell ein Strauß laufen kann!
Die Ungarn sind stolz auf ihre Sprache, gerade weil sie so verschieden von allen anderen europäischen Sprachen ist: Den Unterschied zwischen dem Maskulinum und dem Femininum kann sie nicht ausdrücken, sie enthält kein Wort für „haben”, aber sie kann (durch eine besondere Konjugation des Verbs) anzeigen, ob das zum Verb gehörige Objekt bestimmt oder unbestimmt ist. So heißt látok: „ich sehe” (überhaupt oder etwas Unbestimmtes), während latom bedeutet: „ich sehe es” (dieses bestimmte Ding). Wirklich ein komischer Vogel!
Die ungarische Sprache ist extrem, so wie (angeblich) das ungarische Temperament. Attraktiv, aber unzuverlässig. Sie begleitet Sie wie ein treuer Freund, aber kaum drehen Sie den Rücken, schon ist sie weg und lässt Sie allein um Worte ringen. Besonders dann, wenn Sie aus dem Ungarischen oder ins Ungarische übersetzen. Nichts ist gleich. „Musik” heißt zene oder muzsika, und die beiden Wörter haben verschiedene Konnotationen. „Ich habe Fieber” heißt lázam van, wörtlich: „Fieber mein ist”. Den Wortwechsel: „Ist der Arzt weggegangen?” – „Ja.” würde man übersetzen: „Elment az orvos?”- „El.” Wörtlich: „Weg ging der Arzt?” – „Weg.”
Heute würde niemand ernstlich Sprache und Nationalcharakter in Verbindung bringen, aber zur Zeit der Romantik und im gesamten 19. Jahrhundert sah man die beiden weitgehend im Zusammenhang. Die Ungarn merkten, dass sie „allein” standen: Als alle anderen Nationen ihre linguistischen Familienbande festigten und Teil der slawischen, germanischen, keltischen oder sonst einer Sprachfamilie wurden, fanden die Ungarn keine Verwandtschaft. Seit 1800 etwa vermuteten Sprachforscher, dass das Finnische, das Lappländische und einige wenig bekannte Sprachen in Sibirien dem Ungarischen verwandt sein könnten. Eine zweifelhafte, entfernte Verwandtschaft, nicht wie die Nähe des Deutschen zum Dänischen oder des Französischen zum Italienischen, die leicht zu sehen ist, oder wie die Verwandtschaft des Deutschen mit dem Sanskrit, die nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, aber umso vornehmer und darum eindrucksvoller scheint.
Die „finnische Idee” wurde mit Unglauben und Enttäuschung aufgenommen: Man hatte etwas Glanzvolleres erwartet. Die nächsten 100 Jahre lang bemühten sich Amateurlinguisten – (und nicht nur Amateure) um den Nachweis, dass das Ungarische mit dem Türkischen, Japanischen, Hebräischen, Sumerischen und wer weiß welchen Sprachen verwandt sei.
Nicht alle Ungarn sind glücklich mit der Landessprache: Manche lernen sie nie, weil sie zu früh aus dem Land gehen oder zu spät hineinkommen. Franz Liszt war stolz darauf, Ungar zu sein, sprach aber nicht ungarisch, weil er aus einer deutschsprachigen Familie kam und meist außerhalb Ungarns lebte. Mein Großvater, Eduard Ritter von Hübner, 1883 in Prag geboren und seit 1920 in Ungarn, kam mit sehr wenig ungarisch gut zurecht, bis weit in die sechziger Jahre, als die letzte Generation der Deutschsprachigen im Land allmählich ausstarb. Ich erinnere mich noch an die Volkszählung von 1960. Da Opa nicht alle Fragen verstand, übersetzte ich und füllte den Fragebogen für ihn aus: Geburtsort, Beruf … Dann kam die Sparte anyanyelve. „Muttersprache?”, sagte ich. – „Ungarisch”, antwortete er, auf Deutsch natürlich. – „Aber Opa, du kannst ja gar nicht Ungarisch”, protestierte ich und wollte schon német (= Deutsch) in die Spalte einsetzen. Ich war 13. „Dummes Kind”, schrie er, „was weißt du vom Leben? Schreib magyar und halt’s Maul.”
Jahrhundertelang wurden die Ungarn für Türken gehalten
896 ließen sich die Ungarn in ihrer jetzigen Heimat, dem Karpatenbecken nieder (später organisierten sie sich zum Königreich Ungarn, das bis 1920 bestand), aber sie waren nie so zahlreich, dass sie das gesamte Gebiet ausgefüllt hätten; dort lebten außer ihnen Slawen in großer Zahl, später auch Rumänen und Deutsche. Die Ungarn waren zwar die größte Einzelgruppe im Karpatenbecken, aber insgesamt lebten im historischen Ungarn immer mehr Nichtungarn als Ungarn. Viele Wörter wurden aus dem Slawischen (asztal – Tisch, szabad – frei), dem Lateinischen (templom – Kirche, pásztor – Schafhirte, sors – Schicksal) und sogar aus dem Italienischen übernommen (piac – Markt von piazza, pojáca – Clown, Bajazzo von pagliaccio).
Alle gebildeten Ungarn sprachen Deutsch
Natürlich empfand man das Deutsche als die größte Bedrohung für die ungarische Sprache: In den Städten sprach man meist Deutsch; Bücher und Druckschriften erschienen meist in deutscher Sprache, man schrieb häufig Briefe auf Deutsch und spielte deutsche Stücke; die Habsburger Verwaltung verstärkte diese Tendenz noch. Alle gebildeten Ungarn sprachen Deutsch, und wer Ungarisch schrieb, war ständig hin und her gerissen zwischen der Versuchung, „Germanismen” einzuführen, und dem Drang, sie zu vermeiden. Die Folge: Das Ungarische hat eine paradoxe Ähnlichkeit mit dem Deutschen. Dabei denke ich nicht nur an die vielen deutschen Lehnwörter im Ungarischen. Viel wichtiger noch ist die hohe Gemeinsamkeit in Redewendungen: Durch sie gleicht das Ungarische dem Deutschen wie ein Delfin einem Fisch, auch wenn Ursprung und innere Struktur bei beiden ganz verschieden sind. Auf Ungarisch wie auf Deutsch kann man sagen: Jemand schneidet auf (felvág), oder: Er ist eingebildet (beképzelt). Die Wörter, die Endungen, die Laute sind verschieden, aber der Diskurs ist parallel. In Berlin las ich einmal in einem Zeitungskommentar zu einem politischen Ereignis den Spruch: „Wie sich der kleine Moritz das vorstellt”, und ich musste lachen: Auf Ungarisch sagen wir genau das Gleiche (ahogy azt a Móricka elképzeli).
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden neue Landesgrenzen gezogen und das heutige Ungarn geschaffen, ein Staat, in dem Ungarisch zum ersten Mal die Sprache der absoluten Mehrheit war (jetzt sprechen 99 Prozent der Einwohner des Landes Ungarisch). Andererseits befinden sich die Ungarn jenseits der Landesgrenzen sehr deutlich in der Situation einer Minderheit. Ungefähr 13 Millionen Menschen haben Ungarisch als Muttersprache, 75 Prozent davon leben in Ungarn und 25 Prozent in den Nachbarländern. Das dürfte erklären, warum die Sprache ein so bedeutendes, beinahe geheiligtes Symbol kultureller und nationaler Identität ist. Ein Beispiel: „Ungarische Literatur” ist ein Ausdruck, der zwischen zwei Bedeutungen schwebt: „Literatur in ungarischer Sprache” und „Literatur in Ungarn”. Übrigens hat die Sprache selbst immer nur sehr wenige Dialektvarianten gehabt. Ungarischsprachige Autoren und ihre Werke, ob sie nun aus Bratislava, Budapest oder Brasov stammen, zeigen kaum Unterschiede.
Das tief sitzende Gefühl, einer Minderheit anzugehören, zeigt auch im heutigen Ungarn noch interessante Wirkungen, obwohl es seine Berechtigung verloren hat: Noch in den sechziger Jahren fühlten Schauspieler sich verpflichtet, ihre Namen zu „ungarisieren”, wenn sie nicht ungarisch klangen. Das hat sich inzwischen geändert, und jetzt tragen Schauspieler die Namen Hirtling, Kolovratnik oder Papadimitriu mit Stolz. Doch das Gefühl, die Sprache müsse geschützt werden wie eine vom Aussterben bedrohte Pflanze, ist geblieben. Puristen – manche allzu radikal, andere taktvoller und vorsichtiger – murren weiter gegen die Überfremdung der Sprache, nur dass jetzt nicht mehr das Deutsche, sondern das Englische den größten Einfluss ausübt. Nicht allein technische Fachausdrücke wie szkenner (Scanner) oder lízing (Leasing) dringen ein, sondern auch viele Lebensstil und Lebensgefühl von heute charakterisierende Wörter werden übernommen: mainstream, fíling (Feeling), retró (Nostalgie) oder badis (einer, der mit Bodybuilding beschäftigt ist). Vor ein paar Jahren erhoben sich sogar einige Stimmen zugunsten eines Gesetzes, das den öffentlichen Gebrauch derartiger Fremdwörter verbieten sollte, aber Gott sei Dank erkannten die Entscheidungsträger, dass ein solches Gesetz keine erfreulichen Ergebnisse haben würde.
Ungarisch ist nicht nur wegen seines Wortschatzes andersartig. Der Struktur nach ist es eine agglutinierende Sprache – so der Fachausdruck. Das heißt, die Wörter sind eine, manchmal erstaunlich lange, Kette aus Elementen, die in einer klaren, festgelegten Ordnung aneinander geklebt werden. Das Ungarische hat keine Präpositionen und nur sehr wenige Hilfsverben. Zum Beispiel heißt hajthatatlanságunktól „von unserer Unbeugsamkeit” und setzt sich zusammen aus hajt-hat-atlan-ság-unk-tól, wobei die einzelnen Elemente oder Morpheme der Reihe nach das Verb, die Möglichkeit, die Negation, den Substantivstatus, das Possessivmorphem und das Ablativmorphem bezeichnen: (beug-sam-un-keit-unser-von). Und das Ganze geschieht sehr regelmäßig, ja mechanisch. Jedes Substantiv im Plural muss mit k enden, das gilt ohne Ausnahme, auch für neue oder fremdsprachige Wörter, sodass les Tuileries zu a Tuileriák werden. Auch die Pluralformen von Verben und Adjektive enden auf k. So weit scheint das ganz einfach zu sein; jedoch ändern sich die Vokale der Endungen je nach den Vokalen im Wortstamm, sie gleichen sich an (Vokalharmonie). Wenn im oben genannten langen Beispiel der Stamm sért (verletzen) ist, lautet das Wort sérthetetlenségünktól (von unserer Unverletzbarkeit); alle Vokale ändern sich, um mit dem Stammvokal zu harmonieren (das Phänomen der Vokalharmonie findet sich auch im Türkischen).
Wie schon gesagt, gibt es kein grammatisches Geschlecht, also keinen Unterschied zwischen „er” und „sie”, „seinen” Augen und „ihren” Augen. Das gibt Autoren (besonders Lyrikern) die Möglichkeit, sich abstrakter oder unbestimmter auszudrücken; in der Übersetzung wird dies dann häufig zum Problem, weil in anderen Sprachen das Geschlecht festgelegt werden muss und die Übersetzer die Entscheidung und die Verantwortung dafür übernehmen müssen, wie und wann sie das tun. Das Ungarische hat nur eine Vergangenheitsform, macht also keinen Unterschied zwischen „lernte”, „hat gelernt”, „hatte gelernt”. Andererseits bezeichnet ein einziges Wort, ob Besitz und Eigentümer im Singular oder Plural stehen, also: háza – sein/ihr (Singular) Haus, házuk – ihr (Plural) Haus, házai – seine/ihre (Singular) Häuser, házaik – ihre (Plural) Häuser.
Die ungarische Lyrik kann sehr alte Versmaße benutzen, sogar solche aus der klassischen Antike, weil alle Vokale in langer oder kurzer Form vorkommen: Lange Vokale werden durch einen Akut gekennzeichnet (wie im Tschechischen), also á, í und sogar ý, uý (der berühmte Doppelakzent oder „ungarische Umlaut”, der Schrecken aller Computerschriften). So heißt tör „brechen”, aber toýr „Dolch”. Diese Auswahl zwischen langen und kurzen Vokalen macht es möglich, vollkommene ungarische Hexameter zu dichten, und Lyriker im 20. Jahrhundert haben die Möglichkeit genutzt und gute zeitgenössische Gedichte verfasst. Auch das Reimen ist überraschend beliebt, und nicht nur in humorvoller oder satirischer Absicht, sondern auch in ernst gemeinten Gedichten. Die Tatsache, dass Lyrik in besonderem Maß abhängig von Idiosynkrasien der Sprache ist (und von ihnen lebt), mag erklären, warum lyrische Dichtung noch immer als die größte Stärke der ungarischen Literatur gilt: Offenbar inspiriert eine solche Sprache die Dichter so, wie ein ungewöhnlicher Marmorblock den Bildhauer anregt. Dieselbe Eigenart erklärt aber vielleicht auch, warum ungarische Lyrik so schwer zu übersetzen ist und warum die Anerkennung der ungarischen Prosa (die, wie man zugeben muss, auch ihre Meisterwerke hat) unter den Lesern, die auf Übersetzungen angewiesen sind, so viel weiter verbreitet ist.
Warum die Ungarn nicht wie die Iren sind
Das Ungarische war gegenüber dem Deutschen in einer vergleichbaren Lage wie das Irische im Verhältnis zum Englischen; aber das Entgegengesetzte geschah. In der Mitte des 19. Jahrhunderts entschieden sich zahlreiche Einwohner Ungarns, deren Muttersprache nicht Ungarisch war, zum Ungarischen überzugehen, und tatsächlich sprach man in großen Teilen des Landes (mit Sicherheit in den Gebieten, die das heutige Ungarn ausmachen) und vor allem in den Städten nach zwei oder drei Generationen nur noch Ungarisch.
Ungarisch ist eine voll entwickelte europäische Sprache für alle Lebensbereiche geworden, für Wissenschaft, Recht, Handel, Freizeit, Verbrechen und Literatur. Sie ist offen für fremde Einflüsse (vielleicht allzu offen, zugegeben), zeigt aber keine Anzeichen von Verfall oder Destabilisierung. Aber sobald Ungarn die Grenzen überqueren und nach Wien, Paris, London oder nur in die Teile der Nachbarländer reisen, in denen man nicht Ungarisch spricht, dann sind sie verloren, es sei denn, sie hätten lange Jahre harter Arbeit auf das Erlernen einer Fremdsprache verwendet, die per definitionem sehr verschieden von ihrer Muttersprache sein muss. Verglichen mit Holland, Portugal, Griechenland oder Finnland, schneidet Ungarn in Bezug auf Fremdsprachenkenntnis miserabel ab. Die Iren haben sich von ihrem goldenen Käfig befreit, die Ungarn besitzen ihn noch.
(c) DIE ZEIT 1999