Unter den Literaturen der europäischen Völker nimmt die ungarische eine besondere Stellung ein. Obwohl die Ungarn seit der Staatsgründung Anschluss an die Kultur des Westens suchten und fanden, waren sie durch ihre Sprache von den benachbarten Völkern mit germanischen, slawischen oder romanischen Sprachen isoliert. So musste die gebildete Oberschicht Latein lernen, um mit der Kultur des mittelalterlichen Europas Kontakt aufzunehmen.
Aus vorchristlicher Zeit sind lediglich einige Inschriften in ungarischen Runen erhalten. Seit der Aufnahme der römisch-katholischen Religion durch Stephan I. wurde nur mehr das lateinische Alphabet verwendet. Aus der Zeit vor dem 11. Jahrhundert haben sich keine nennenswerten Sprachdenkmäler erhalten. Anders als in der finnischen Literatur mit dem rekonstruierten Nationalepos Kalevala und der estnischen mit Kalevipoeg gibt es im Ungarischen nur Sagenfragmente.
Wie sehr die Schreibkundigen deshalb die ungarische Sprache gering schätzten, zeigt die Tatsache, dass erst im 13. und 14. Jahrhundert die ersten Sprachdenkmäler aufgezeichnet wurden, eine Leichenrede und eine Marienklage.
Das erste erhaltene Gedicht in ungarischer Sprache, Mariä Klagelied, 13.Jh.
Meinen Abgott,meinen süßen
einzigen Sohn raubt mir der Tod.
Seht, wie meine Träne fließen!
Wo ist Trost in meiner Not?
Meine Augen sind von Zähren
überströmt und schon fast blind.
Hilflos, seiner Qual zu wehren,
seh ich, wie sein Blut verrint.
Wunder aller Rosen,strahle,
laß der Welt als ewig`Licht
leuchten deine Wundenmale,
dornbekränztes Angesicht!
(Nachdichtung von Martin Remané)
Im 13. und 14. Jahrhundert dominierte die lateinische Geschichtsschreibung. Hier sind vor allem die „Gesta Hungarorum” aus dem 13. Jahrhundert zu nennen. Der Autor nannte sich ” Anonymus”, wer er wirklich war, ist bis heute umstritten.
Renaissance
Mit dem Renaissancekönig Matthias Corvinus (1458-1490) setzte in Ungarn ein kultureller Aufschwung ein und für die Bibliotheca Corviniana entstanden zahlreiche Prachtkodices mit ungarischen Passagen.
Bedeutende lateinisch schreibende Ungarn waren Janus Pannonius (1434-1472) und Bálint Balassi (1554-1594). Er schuf ritterliche und religiöse Lyrik in klangvollen Versen.
Literatur der Barockzeit
Den Jesuiten gelang die Rekatholisierung mehrerer protestantischer Aristokraten. Der wichtigste Vertreter der Gegenreformation war Péter Pázmány (1570-1637). Sein Hauptwerk, der „Führer zur göttlichen Wahrheit” (1613) war ein wichtiger Schritt bei der Entwicklung einer ungarischen Philosophiesprache; Gebetbuch 1606.
János Apáczai Csere (1625-1659) schrieb eine „Ungarische Enzyklopädie” (1655), die wichtig für die Wissenschaftssprache wurde.
Die Geschichte der ungarischen Literatur ist die Geschichte des Kampfes um die eigene Sprache und um die nationale Selbständigkeit, und die größten Dichter der Ungarn waren nationale und soziale Revolutionäre – die fruchtbarsten Zeiten waren die Epoche der Revolution von 1848 und die von sozialen Unruhen erschütterte Ära vor dem Zweiten Weltkrieg.
Die ersten Ansätze einer ungarischen Literatur zeigten sich während des Reformzeitalters im 16. Jahrhundert. Damals entstanden das Heldenepos von Miklós Zrinyi über die Belagerung der Burg von Szigetvár durch die Türken und den Heldentod des Verteidigers, des Urgroßvaters des Dichters.
Aufklärung und Romantik
1794 erschien die Pester Zeitschrift „Uránia”, die ausnahmslos ungarische Literatur und keine Übersetzungen veröffentlichte. Mit ihr wurde Pest zum literarischen Zentrum Ungarns. Der Wiener Hof blieb nicht untätig und baute ein weit verzweigtes Netzwerk von Zensoren auf. Mihály Csokonai Vitéz (1773-1805) war ein großer Lyriker, der in Ungarn seltene lyrische Formen einsetzte oder gar einführte, etwa das erste jambische Gedicht (!?) und das Sonett (nicht als Erster). Csokonai wird eine geistige Verwandtschaft mit Wolfgang Amadeus Mozart zugeschrieben, zu dessen Zauberflöte er das Libretto übersetzte. Er schrieb das erste ungarische ironische Epos „Dorotha” (Dorottya, 1795), in dem er die adelige Lebensweise karikiert.
Mihály Fazekas (1766-1828) wurde nur für ein einziges Werk bekannt, nämlich seinen „Gänsemathes” (Ludas Matyi, 1804), der sehr populär und in viele Sprachen übersetzt wurde. Das Märchen vom bösen Adeligen und guten Bauernburschen wurde zu einem Symbol der ungarischen Literatur.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzte der große Aufbruch der ungarischen Literatur ein. Wegbereiter war der Jakobiner Ferenc Kazinczy (1759-1831), der als Übersetzer, Zeitschriftengründer, Spracherneuerer und anregender Vermittler wirkte. Bedeutende Schriftsteller seiner Zeit waren der Romantiker der Jakobiner János Batsányi, der wegen seiner Verse ins Gefängnis musste, und der Dramatiker Károly Kisfaludy.
Zu den Romantikern gehört József Katona (1791-1830), der mit „Bánk bán” das erste nationale Drama schuf.
Der Dichter der Nationalhymne war Ferenc Kölcsey (1790-1838).
Übersetzter Text der 1. Strophe der ungarischen Hymne:
„Segne, Herr, mit frohem Mut
Reichlich den Magyaren!
Schütz ihn gegen Feindeswut
In des Kampfs Gefahren;
Gönn nach langem Mißgeschick ihm ein Jahr der Freude,
Hat’s bezahlt, der Zukunft Glück, / Mit vergangnem Leide!”
Reformzeit
Damit wird die Zeit zwischen 1825-1848 bezeichnet. Sie war eine Glanzzeit der ungarischen Literatur mit Mihály Vörösmarty (1800-1855), János Arany (1817-1882) und Sándor Petőfi (1823-1859) an der Spitze.
Vörösmarty ist als Freiheitskämpfer und Lyriker bekannt. Zu seinen wichtigsten Werken zählen das Epos „Zaláns Flucht” über die ungarische Landnahme (begonnen 1823), „Csongor und Tünde” (1831), das an Mozarts Zauberflöte erinnert und das Gedicht „Zuspruch” (Szózat, 1838), das während der Revolution als „Ungarische Marseillaise” gesungen wurde.
Ungarns Nationaldichter und Freiheitsheld ist Sándor Petöfi (1823-1849), der mit 26 Jahren als Hauptmann der Revolutionsarmee fiel. Seine Gedichte sind in alle Kultursprachen übersetzt, viele von ihnen wurden zu Volksliedern. Sein Freund und Kampfgefährte János Arany (1817-1882) schrieb Balladen und Lyrik.
Mór Jókai (1825-1904) nahm an der Revolution von 1848-49 teil und war auch später politisch aktiv. Als Schriftsteller hinterließ er ein gewaltiges erzählerisches Werk. Seine zu Lebzeiten herausgegebenen „Gesammelten Werke” umfassen 100 Bände, die rund zweihundert meist romantisch-idealistischen Erzählungen, Novellen und Romanen beinhalten.
Von pessimistischer Philosophie getragen ist das oft übersetzte dramatische Gedicht „Die Tragödie des Menschen” von Imre Madách (1823-1864).
Gesellschaftskritik und Satire enthalten die Romane von Kálmán Mikszáth (1877-1910).
20. Jahrhundert
1908 wurde die Literaturzeitschrift „Nyugat” (Westen) gegründet, an der viele bedeutende ungarische Schriftsteller dieser Zeit mitgearbeitet haben. Es war die künstlerische und revolutionäre Avantgarde, zu der vor allem Endre Ady(1877-1919) und Attila József (1905-1937) zu rechnen sind. Adys Lyrik ist formensprengend, radikal und voller Bilder, die des Arbeitersohns József kündet von Revolution und dem Glauben an eine bessere Zukunft – der Dichter starb im Alter von 33 Jahren durch Selbstmord.
Mihály Babits (1883-1941) übersetzte Dantes Göttliche Komödie. Er schrieb Romane, Lyrik und Essays. Mit seinem Pazifismus war er im traditionell sehr patriotischen Ungarn nicht immer gern gesehen. Dezső Kosztolányi (1885-1936) war in allen Genres zuhause und übersetzte zeitgenössische Weltliteratur in „Moderne Dichter” (1913).
Ferenc Molnár (1878-1952) ist der bedeutendste ungarische Dramatiker, am bekanntesten ist sein Theaterstück „Liliom” (1909). 1937 musste er ins Exil in die USA.
Die erste moderne ungarische Schriftstellerin, die die Frau in den Mittelpunkt ihrer Romane stellte, war Margit Kaffka (1880-1918). Im deutschsprachigen Raum weit verbreitet sind auch die Romane von Magda Szabó (geb. 1917), in denen sie die Probleme unserer Zeit verarbeitet.
Vor dem Zweiten Weltkrieg war das Spektrum der ungarischen Literatur sehr weit: Da gab es das bürgerliche Lager, Sozialisten, Kommunisten, die Avantgarde der Form und Volksschriftsteller. Das änderte sich nach dem Krieg, in dem viele Literaten umkamen, einige starben in Konzentrationslagern, viele verließen das Land. Es folgten Jahre der Stagnation, in denen der Staat das Kulturmonopol besaß und die künstlerische Freiheit eingeengt war. Nach den Wirren von 1956 veränderte sich die Lage, das literarische Schaffen konnte sich wieder freier entfalten.
Sándor Márai (1900-1989) lebte lange Zeit teils (freiwillig) im Ausland, teils im Exil.
Von der ungarischen Literatur der Zwischenkriegszeit und der Zeit seit 1945 sind in den deutschsprachigen Ländern vor allem die Romane von Tibor Déry (1894-1977) bekannt geworden. Von Gyula Illyés (1902-1983) ist bei uns das Werk „Pusztavolk” am meisten verbreitet, von László Németh (1901-1975) die Romantetralogie „Letzter Versuch”.
Imre Kertész (* 1929), Überlebender des KZ Auschwitz-Birkenau, verarbeitete diese Erfahrung in „Mensch ohne Schicksal” (Sorstalanság, 1975). Er erhielt 2002 den Nobelpreis für Literatur für, so die Laudatio, „ein schriftstellerisches Werk, das die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet”. Wie viele andere Schriftsteller dieser Zeit hat Kertész enge Kontakte zur deutschsprachigen Kultur und ist selbst Übersetzer aus dem Deutschen ins Ungarische.
Andere Autoren sind Ferenc Juhász und György Konrád, Lyriker sind zum Beispiel László Nagy, Sándor Weörös und János Pilinszky.
Als der bekannteste nach dem Krieg geborene Autor gilt Péter Esterházy (* 1950) mit seiner „Harmonia Caelestis” und der „Verbesserten Ausgabe” derselben.
Literatur
László Rónay: Abriß der ungarischen Literaturgeschichte. Corvina 1997. ISBN 963-13-3911-4