DER SICH EINEN HIRSCH VERWANDELTE
„Mein Leben ist der Beweis dafür, dass dem, der genug Talent hat, entschlossen ist und Glück hat, schließlich alles gelingen wird. Man darf niemals aufgeben”, sagte er. Das Leben von Solti ist nicht frei von Widrigkeiten und doch eine Erfolgsgeschichte par exellence. Mehr als 300 Schallplatten – darunter 45 Opernaufnahmen – zeigen seine Meisterschaft, für die ihm viele Preise verliehen wurden. Er erhielt allein 32 Grammys – mehr als jeder andere Musiker aus Klassik oder Pop.
„Ich hatte das Glück in Ungarn aufzuwachsen, in einem Land, das mit der Musik lebt.” Schon in seiner Kindheit sollte er Pianist werden, doch statt zu üben, beobachtete er lieber durch das Fenster seine Freunde auf der Straße. Als er Erich Kleiber ein Konzert dirigieren hörte, beschloss er, nicht Pianist sondern Dirigent zu werden. An der Musikakademie war Solti Schüler von Bartók, Dohnányi, Kodály, Arnold Székely und Leó Weiner; nach dem Diplom wurde er an das Budapester Opernhaus verpflichtet. Georg Solti assistierte großen Dirigenten – darunter im Jahre 1936 Arturo Toscanini in Salzburg – bis 1938 seine Chance kam: Er konnte das Orchester der Pester Oper bei der Vorstellung von Mozarts „Die Hochzeit des Figaro” dirigieren. „Es war ein schicksalhafter Abend. Während ich mit dem Figaro debütierte, marschierten die Nazis in Wien ein. Meine Karriere in Ungarn begann und endete noch am selben Tag.”
EMIGRATION
1939 riet man ihm, sich sicherheitshalber nach Amerika zu begeben. Er reiste in die Schweiz, um eine Empfehlung von Toscanini für den Visaantrag zu erbitten, wagte jedoch nicht mehr, das neutrale Land zu verlassen: Er blieb und arbeitete ohne Staatsbürgerschaft und Arbeitserlaubnis als Pianist.
AMERIKANISCHE EINLADUNG NACH MÜNCHEN
Solti, der nur über wenig Erfahrung als Orchesterleiter verfügte, wurde 1946 von der Militärregierung nach München gerufen, um Beethovens Fidelio zu dirigieren. Aufgrund seines Erfolges wurde er zum Chefdirigenten der Bayerischen Staatsoper ernannt. „Glücklicherweise bemerkte niemand, wie wenig ich von der Leitung eines Opernhauses verstand.” 15 Jahre arbeitete Solti in Deutschland, – 1952 wurde er der Direktor der Frankfurter Oper – er arbeitete mit Richard Strauss zusammen und schloss einen Vertrag als Pianist und Dirigent mit dem Plattenverlag Decca ab. Auf Grundlage dieses Vertrages gab er 50 Jahre lang Platten heraus – es war die längste exklusive Zusammenarbeit in der Musikgeschichte. Auf Bitte von Decca nahm er erstmals vollständig Wagners „Ring des Nibelungen” mit den Wiener Philharmonikern auf – diese Arbeit dauerte sieben Jahre.
ATONALE MUSIK, SCHOCKIERENDE SEHENSWÜRDIGKEIT IM COVENT GARDEN
Ab 1961 war er an der Londoner Covent Garden Opera als Chefdirigent tätig, dort stellte er zeitgenössische Stücke, die Werke von Britten, Schönberg und Strauss vor; diese zehn Jahre werden seither als Goldenes Zeitalter des Hauses bezeichnet. Schönbergs Werk „Moses und Aron” in der Inszenierung von Peter Hall war eine wahre Sensation: Mit der Lösung der musikalischen Herausforderung des atonalen Werkes beschäftigt, blieb Solti keine Zeit, auf die spektakuläre Bühnendarbietung zu achten, während derer zwei Pferde, eine Kuh, zwei Esel, sechs Ziegen sowie mit Kunstblut übergossene Striptease-Tänzerinnen das vornehme Londoner Publikum schockierten.
CHICAGO: EIN ROMANTISCHER MUSIKER UND EIN ROMANTISCHES ORCHESTER
1969 begann Soltis bedeutendste Zeit: Er wurde Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra. 22 Jahre arbeitete er mit dem Orchester, brachte 100 Platten heraus, von denen mehr als 45 Millionen verkauft wurden. „Es ist wunderbar, wenn ein Mensch in einer glücklichen musikalischen Verbindung lebt. Ich bin ein romantischer Musiker und das ist ein romantisches Orchester. Das ist unser Geheimnis – als alle mit dem Gegenteil beschäftigt waren, wagten wir es, romantisch zu sein. Uns ist eine unübertreffliche Liebe eigen.” Bis 1991 blieb er in Chicago, dann war er als unabhängiger Dirigent tätig, gründete das Weltfriedensorchester und die Solti-Stiftung für junge Musiker.
EIN IN EINEN HIRSCH VERWANDELTER JUNGE KEHRT HEIM
1997 kam er nach Ungarn zurück und machte seine einzige hiesige Aufnahme mit Werken von Bartók, Kodály und Weiner. Ein Dokumentarfilm zeigt die Aufnahmen und wie er neben Opern und Proben die Stätten seiner Kindheit, seine erste Liebe nach Jahrzehnten wiedersah und in Balatonfőkajár den alten jüdischen Friedhof und die Gräber seiner Vorfahren aufsuchte. „Ich hatte immer das Gefühl, so zu sein wie der in einen Hirsch verwandelte Junge aus Bartóks Cantata Profana. In meiner Kindheit wurde ich von Familie und Heimat getrennt. Ich verfolgte, jagte die Musik und das Schicksal verwandelte mich in meine eigene Beute. Meine Lebensumstände waren das Hindernis, das eine Heimkehr nicht zuließ. Doch am Grab meiner Großeltern spürte ich im Abendlicht zum ersten Mal seit 1939, dass ich zu Ungarn gehöre. Der Sohn des Hirsches kehrte heim. Sein Geweih passte durch das Tor, denn während seiner Abwesenheit wurde die Öffnung höher und weiter.” Nach der Studioaufnahme und dem Drehen des Films lud Solti seine Mitarbeiter ins Gundel ein und verabschiedete sich von ihnen mit den Worten, im Herbst werde er in einem Konzert die Werke dieser neuen Aufnahme dirigieren. In jenem Sommer verstarb er plötzlich – das Konzert wurde zu seinem Andenken veranstaltet.
Gergely Zöldi